Paulo Coelho
Schutzengel
Roman
Aus dem Brasilianischen von Maralde Meyer-Minnemann
Für den Namen, der am 12. Oktober 1988 in den Glorieta Canyon geschrieben wurde.
Und siehe, des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie.
Lukas, 2:9
Prolog
J. und ich hatten uns am Strand von Copacabana zum Abendessen getroffen. Mit der Freude und Begeisterung eines Autors, der gerade sein zweites Buch veröffentlicht hatte, übergab ich ihm ein Exemplar von Der Alchimist. Ich sagte ihm dazu, dass das Buch als Dank für alles, was ich in den sechs vergangenen Jahren von ihm gelernt hatte, ihm gewidmet sei.
Zwei Tage später begleitete ich ihn zum Flughafen. Während wir warteten, dass sein Flug aufgerufen wurde, sagte er zu mir: »Alles, was einmal passiert, passiert möglicherweise nicht noch einmal. Falls es aber zweimal passiert, wird es bestimmt ein drittes Mal passieren.« Ich fragte, was er damit sagen wolle. Er erklärte mir, dass ich schon zwei Chancen, meinen Traum zu leben, ungenutzt hätte verstreichen lassen, und zitierte dann aus einem Gedicht von Oscar Wilde:
Doch jeder mordet, was er liebt,
sei jeder dess belehrt,
Mit schmeichelndem Wort, mit bittrem Blick,
nach jedes Art und Wert;
Der Feige mordet mit einem Kuss,
der Tapfre mit einem Schwert!
»Der Fluch muss gebrochen werden«, meinte J. und schlug mir vor, an einem einsamen Ort die »Geistlichen Übungen« des heiligen Ignatius von Loyola zu machen. Erfolg erfülle den Menschen mit Freude, löse aber zugleich Schuldgefühle aus. Die Übungen könnten mich auf das vorbereiten, was die Zukunft für mich bereithalte.
Als ich ihm daraufhin erzählte, es sei schon immer mein Traum gewesen, vierzig Tage in einer Wüste zu verbringen, schlug er mir vor, in die Mojave in den Vereinigten Staaten zu fahren, wo er jemanden kenne, der mir helfen könnte, das zu akzeptieren, was ich liebe - meine Arbeit.
Das Ergebnis dieser Erfahrung findet sich in diesem Buch. Die Ereignisse, von denen Schutzengel erzählt, haben sich zwischen dem 5. September und dem 17. Oktober 1988 zugetragen. Manchmal habe ich die Abfolge der Ereignisse ein wenig verändert und mich zweimal zum besseren Verständnis des Lesers der Mittel der Fiktion bedient, doch alle wesentlichen Fakten sind wahr. Der im Nachwort des Buches zitierte Brief ist im Notariat für Titel und Dokumente von Rio de Janeiro unter der Nummer 478038 hinterlegt.
Paulo Coelho
Sie waren jetzt schon sechs Stunden unterwegs. Zum hundertsten Mal fragte er seine Frau, die auf dem Beifahrersitz saß, ob dies auch wirklich der richtige Weg sei.
Zum hundertsten Mal schaute sie auf die Karte. Ja, es war der richtige Weg. Obwohl durch die grüne Landschaft ein schöner Bach floss und die Straße von Bäumen gesäumt war.
»Lass uns an einer Tankstelle anhalten und fragen«, schlug sie vor.
Schweigend fuhren sie weiter und hörten dabei einen Sender, der Oldies spielte. Chris wusste, dass es nicht notwendig war, an der Tankstelle zu halten, da sie auf dem richtigen Weg waren, auch wenn die Umgebung ganz anders aussah als erwartet. Aber sie kannte ihren Mann - Paulo war argwöhnisch, traute ihr nicht zu, die Karte richtig zu lesen. Er würde sich erst beruhigen, wenn sie jemanden fragten.
»Wir sind hier, damit du mit deinem Schutzengel redest«, sagte sie nach einer Weile. »Aber wie wäre es, wenn du einstweilen mit mir reden würdest?«
Er schwieg weiter, den Blick starr geradeaus auf die Straße gerichtet. >Es bringt nichts, darauf zu bestehen<, dachte sie. Wenn doch bloß schnell eine Tankstelle auftauchte! Sie waren direkt vom Flughafen von Los Angeles losgefahren - und Chris hatte Angst, dass Paulo zu müde sein und am Steuer einschlafen könnte.
Und dieser bescheuerte Ort kam und kam nicht.
>Ich hätte einen Ingenieur heiraten sollen<, sagte sie sich.
Sie würde sich nie daran gewöhnen können: Immer wieder ließ Paulo von einem Augenblick auf den anderen alles stehen und liegen, jagte hinter heiligen Wegen, Schwertern, Gesprächen mit Engeln her, tat alles nur Erdenkliche, um auf dem Weg der Magie weiterzukommen. >Er hat schon immer diese Manie gehabt, alles stehen- und liegenzulassen, auch bevor er J. getroffen hat.<
Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie beide zum ersten Mal miteinander ausgegangen waren. Sie waren gleich im Bett gelandet, und eine Woche später hatte sie ihr Reißbrett in seine Wohnung gebracht. Ihre gemeinsamen Freunde sagten, Paulo sei ein Hexer, und eines Nachts hatte Chris den Pastor der protestantischen Kirche angerufen, in die sie immer ging, um ihn zu bitten, für sie zu beten.
Im ersten Jahr hatte Paulo kein einziges Mal von Magie gesprochen. Er arbeitete in einer Schallplattenfirma, und das war es.
Im darauffolgenden Jahr verlief ihr Leben genauso. Dann kündigte er und wechselte zu einer anderen Schallplattenfirma.
Im dritten Jahr kündigte er erneut (seine Manie, alles aufzugeben) und beschloss, fürs Fernsehen zu schreiben. Sie fand das merkwürdig, jedes Jahr den Job zu wechseln - aber Paulo schrieb, verdiente damit Geld, und sie lebten gut.
Bis er am Ende des dritten Jahres auch den Job beim Fernsehen hinwarf. Er gab keine Erklärungen, sagte nur, er habe es satt, das zu tun, was er mache, es würde nichts bringen, immer wieder zu kündigen und irgendwo anders neu anzufangen. Er müsse herausfinden, was er wirklich wolle. Sie hatten etwas Geld angespart und beschlossen, durch die Welt zu reisen.
>In einem Wagen, genau wie jetzt<, dachte Chris.
In Amsterdam hatten sie dann J. getroffen, als sie im Hotel Brouwer einen Kaffee tranken und auf die Singelgracht schauten. Paulo war ganz blass und nervös geworden. Schließlich hatte er Mut gefasst und war zum Tisch dieses großen, weißhaarigen Mannes im Anzug hinübergegangen. Am Abend, als sie beide wieder allein waren, hatte Paulo dann eine ganze Flasche Wein getrunken (er vertrug nicht viel und war immer gleich betrunken) und ihr gestanden, dass er sieben Jahre lang damit beschäftigt gewesen sei, Magie zu erlernen (was sie bereits wusste, da Freunde es ihr erzählt hatten). Aber er hatte es aus irgendeinem Grund (den er nie offenlegte, obwohl sie ihn mehrfach danach gefragt hatte) aufgegeben.
»Aber vor zwei Monaten habe ich im Konzentrationslager Dachau diesen Mann in einer Vision gesehen«, hatte er gesagt und damit J. gemeint.
Sie erinnerte sich an diesen Tag. Paulo hatte heftig geweint; angeblich hatte er einen Ruf vernommen, aber nicht gewusst, wie er ihm nachkommen solle.
»Soll ich zur Magie zurückkehren?«, hatte er sie gefragt.
»Das solltest du«, hatte sie darauf geantwortet, ganz sicher war sie sich allerdings nicht gewesen.
Seit der Begegnung mit J. hatte sich alles verändert. Es hatte Rituale, Exerzitien, Übungen gegeben und lange Reisen mit J., bei denen das Datum der Rückkehr nie feststand. Es hatten intensive Begegnungen mit seltsamen Männern und mit hübschen Frauen stattgefunden, die eine ungeheure Sinnlichkeit ausstrahlten. Es hatte Herausforderungen und Probleme gegeben, lange, schlaflose Nächte und lange Wochenenden, an denen sie das Haus nicht verließen. Doch Paulo war zufriedener geworden, kündigte nicht mehr ständig. Sie hatten gemeinsam einen kleinen Verlag gegründet, und er hatte einen alten Traum verwirklicht - Bücher zu schreiben.
Endlich tauchte eine Tankstelle auf. Ein junges, indianisch aussehendes Mädchen kam heraus. Sie stiegen aus dem Wagen, um sich die Beine zu vertreten, während das junge Mädchen den Tank füllte.
Paulo nahm die Karte und verglich die Route. Sie befanden sich auf dem richtigen Weg.
>Jetzt entspannt er sich. Jetzt wird er mit mir reden<, hoffte Chris.
»Hat dich J. hierher geschickt, damit du hier deinen Engel findest?«, fragte sie ganz vorsichtig. »Nein«, sagte er.
>Immerhin, er hat mir geantwortet<, dachte Chris, während sie auf das satte Grün schaute, das von der untergehenden Sonne angestrahlt wurde. Hätte sie unterwegs nicht immer wieder auf die Karte geschaut, hätte sie selbst auch Zweifel gehabt, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Es mussten noch etwa zehn Kilometer bis zu ihrem Ziel sein, aber die Szenerie schien ihnen zu sagen, dass sie noch sehr, sehr weit davon entfernt waren.
»J. hat mir nicht ausdrücklich gesagt, dass ich hierher fahren soll«, fuhr Paulo fort. »Er meinte, jeder andere Ort sei auch gut. Aber hier habe ich eine Kontaktperson, verstehst du?«
Natürlich verstand sie ihn. Paulo hatte immer Kontaktpersonen. Er sprach von diesen Menschen immer als von »Angehörigen der >Tradition<«. Doch Chris nannte sie in ihrem Tagebuch immer nur >die Konspiration<. Unter ihnen waren auch Hexen und Zauberer, die einem Alpträume verschaffen konnten.
»Jemand, der mit Engeln redet?«
»Ich bin mir nicht sicher. J. hat irgendwann ganz nebenbei einen Meister der Tradition erwähnt, der hier lebt und der weiß, wie man mit Engeln redet. Aber es könnte auch nur ein Gerücht sein.«
Vielleicht meinte er das ernst. Aber Chris wusste, dass er unter den vielen Orten, an denen er »Kontakte« hatte, willkürlich einen herausgepickt hatte. Einen Ort, an dem er weit weg vom Alltag war und sich besser auf »das Außergewöhnliche« konzentrieren konnte.
»Und wie wirst du mit einem Engel reden?«
»Das weiß ich nicht.«
>Eine merkwürdige Art zu leben<, dachte Chris. Sie folgte ihrem Mann mit den Augen, als er zu dem indianischen Mädchen ging, um die Rechnung zu bezahlen. Er wusste nur, dass er mit Engeln reden musste, mehr nicht! Dafür ließ er, was er gerade machte, stehen und liegen, bestieg ein Flugzeug, flog die weite Strecke bis Los Angeles, fuhr danach sechs Stunden bis zu dieser Tankstelle, wappnete sich mit genügend Geduld, um vierzig Tage in der Gegend verbringen zu können - und das alles nur, um mit seinem Schutzengel zu reden oder es vielmehr zu versuchen.
Er lächelte ihr zu, sie lächelte zurück. So schlimm war es doch auch wieder nicht. Sie hatten ihren Alltagsärger, mussten Rechnungen bezahlen, Schecks ausstellen, aus reiner Höflichkeit Leute besuchen, Unangenehmes schlucken.
Aber dennoch glaubten sie an Engel.
»Wir werden es schaffen«, sagte sie.
»Danke für das >wir<«, antwortete er. »Aber der Magier hier bin ich.«
Das Mädchen von der Tankstelle hatte ihnen bestätigt, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Zehn Minuten fuhren sie schweigend dahin, jetzt mit abgestelltem Radio. Es gab eine kleine Anhöhe, doch erst als sie hinaufgefahren waren und auf der anderen Seite ins Tal sahen, wurde ihnen klar, wie hoch ihr Aussichtspunkt lag. Sie waren die ganzen letzten Stunden, ohne es zu merken, stetig bergauf gefahren. Aber sie waren angekommen.
Er hielt den Wagen am Straßenrand an und schaltete den Motor aus. Sie warf einen Blick zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren: ja, nichts als grüne Bäume, Pflanzen, üppige Vegetation.
Doch vor ihnen erstreckte sich bis zum Horizont die Mojave. Die riesige Wüste, die über fünf amerikanische Staaten und bis nach Mexiko reicht, die Wüste, die sie als Kind in so vielen Wildwestfilmen gesehen hatte, die Wüste, in der es Orte mit seltsamen Namen wie Regenbogenwald oder Tal des Todes gab.
>Sie ist rosa<, dachte Chris, sprach es aber nicht aus. Paulo starrte auf die unendliche Weite, wer weiß, vielleicht versuchte er herauszufinden, wo die Engel wohnen.
Borrego Springs erwies sich als so klein, dass man vom Hauptplatz aus sehen konnte, wo es anfing und wo es aufhörte. Dennoch hatte der kleine Ort drei Hotels. Im Winter kamen Touristen hierher, um Sonne zu tanken.
Paulo und Chris ließen ihr Gepäck im Zimmer und aßen in einem Restaurant mit mexikanischer Küche zu Abend. Der junge Mann, der sie bediente, blieb lange in ihrer Nähe, um herauszubekommen, welche Sprache sie sprachen, und da er es nicht schaffte, fragte er sie schließlich. Als er erfuhr, dass sie aus Brasilien kamen, meinte er, er habe noch nie einen Brasilianer kennengelernt.
»Jetzt kennen Sie gleich zwei«, sagte Paulo lachend. >Wahrscheinlich wird es am nächsten Tag der ganze Ort wissen<, dachte er. In Borrego Springs gab es nicht viele Neuigkeiten.
Sie beendeten die Mahlzeit und schlenderten Hand in Hand durch die Außenbezirke des Ortes. Paulo wollte die Wüste betreten, die Wüste spüren, die Luft der Mojave einatmen. Und so stolperten sie schließlich über den mit Steinen und Felsbrocken übersäten Wüstenboden. Nach einer halben Stunde hielten sie an, drehten sich um und konnten im Osten die wenigen fernen Lichter von Borrego Springs sehen.
Dort in der Wüste war der Himmel besonders klar. Sie setzten sich auf den Boden, und als sie Sternschnuppen sahen, wünschte sich jeder von ihnen etwas anderes. Der Mond schien nicht, aber die Sterne funkelten.
»Hast du auch schon das Gefühl gehabt, dass in bestimmten Augenblicken deines Lebens jemand beobachtet, was du tust?«, fragte Paulo.
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es eben. Es sind Augenblicke, in denen wir, ohne dass uns dies bewusst wird, die Gegenwart von Engeln wahrnehmen.«
Chris erinnerte sich an ihre Jugend. Damals war dieses Gefühl sehr viel stärker gewesen.
»In solchen Augenblicken«, fuhr er fort, »beginnen wir, eine Art Film zu schaffen, in dem wir die Hauptdarsteller sind und in der Gewissheit agieren, dass jemand zuschaut.
Doch je älter wir werden, desto lächerlicher finden wir das. Wir kommen uns dabei vor wie ein Kind, das davon träumt, Filmschauspieler oder Filmschauspielerin zu werden. Und vergessen, dass in den Augenblicken, in denen wir für ein unsichtbares Publikum spielten, das Gefühl, beobachtet zu werden, sehr intensiv war.«
Er schwieg nachdenklich.
»Wenn ich in den Himmel schaue, kommt dieses Gefühl häufig zurück und mit ihm die Frage: Wer beobachtet uns?«
»Und wer beobachtet uns?«, fragte sie.
»Engel. Die Boten Gottes.«
Sie starrte in den Himmel. Sie wollte Paulo nur allzu gern glauben.
»Alle Religionen und auch alle Menschen, die >das Außergewöhnliche schon gesehen haben<, sprechen von Engeln«, fuhr Paulo fort. »Das Universum ist von Engeln bevölkert. Sie sind es, die uns Hoffnung bringen, wie derjenige, der den Hirten die Geburt des Messias verkündet hat. Sie bringen auch den Tod, wie jener Würgeengel, der durch Ägypten zog und alle vernichtete, die kein Zeichen an ihrer Tür hatten. Sie sind es, die uns mit einem Feuerschwert in der Hand den Zutritt zum Paradies verwehren können. Oder uns hereinbitten können, wie ein Engel es mit Maria getan hat.
Die Engel öffnen die Siegel der verbotenen Bücher, sie blasen die Trompeten des Jüngsten Gerichts. Sie bringen das Licht wie Michael oder die Finsternis wie Luzifer.«
Chris fasste sich ein Herz und fragte:
»Haben sie Flügel?«
»Ich habe noch nie einen Engel gesehen«, antwortete Paulo. »Aber ich würde es auch gern wissen. Und habe J. gefragt.«
>Wie gut<, dachte sie. Dann war sie also nicht die Einzige, die grundsätzliche Fragen zu Engeln hatte.
»J. hat gesagt, dass sie die Form annehmen, die wir uns vorstellen. Denn in ihnen hat Gottes Denken eine lebendige Form angenommen, und sie müssen sich unserem Wissen und unseren Vorstellungen anpassen. Ihnen ist klar, dass wir sie nicht sehen können, wenn sie es nicht tun.«
Paulo schloss die Augen.
»Stell dir deinen Engel vor, und du wirst in diesem Augenblick seine Gegenwart spüren«, sagte er.
Sie lagen in der Wüste und schwiegen. Sie hörten keinerlei Geräusch, und Chris fühlte sich wieder in den Film ihrer Jugendjahre zurückversetzt, in dem sie für ein unsichtbares Publikum gespielt hatte. Je mehr sie sich darauf konzentrierte, umso sicherer war sie sich, dass etwas Starkes, Freundliches und Großzügiges gegenwärtig war. Sie begann, sich ihren Engel vorzustellen, schmückte ihn so, wie sie ihn auf den Bildern ihrer Kindheit gesehen hatte: blaues Gewand, goldenes Haar, riesige weiße Flügel.
Auch Paulo stellte sich seinen Engel vor. Er war schon sehr oft in die unsichtbare Welt, die ihn umgab, eingetaucht, darum war das alles für ihn nicht neu. Aber seit J. ihm diese Aufgabe gestellt hatte, spürte er, dass sein Engel sehr viel gegenwärtiger war - als würden die Engel sich nur von jenen bemerken lassen, die an ihre Existenz glaubten. Obwohl sie immer da waren, egal, ob die Menschen nun an sie glaubten oder nicht - Boten des Lebens, des Todes, der Hölle oder des Paradieses.
Er kleidete seinen Engel in einen langen, goldbestickten Umhang und gab ihm ebenfalls Flügel.
Ein Polizist nahm am Nebentisch sein Frühstück ein. Plötzlich sprach er sie an: »Gehen Sie nicht wieder nachts in die Wüste«, sagte er. >Der Ort ist tatsächlich sehr klein<, dachte Chris. >Hier erfährt jeder immer sofort alles.<
»Nachts ist es am gefährlichsten«, fuhr der Polizist fort. »Da kommen die Koyoten und die Schlangen hervor. Sie ertragen die Hitze am Tag nicht und beginnen erst nach Sonnenuntergang zu jagen.«
»Wir haben dort unsere Engel gesucht«, meinte Paulo. Der Polizist verstand ihn nicht. Der Satz, den der Mann gesagt hatte, ergab für ihn keinen Sinn: »Engel!« Bestimmt meinte der Fremde etwas ganz anderes.
Paulo und Chris beendeten schnell ihr Frühstück. Der »Kontakt« hatte ihr Treffen sehr früh angesetzt.
Chris war überrascht, als sie Took zum ersten Mal sah - er war ganz jung, kaum älter als zwanzig, und wohnte einige Kilometer außerhalb von Borrega Springs am Rande der Wüste in einem Wohnwagen.
»Und das soll ein Meister der >Konspiration< sein?«, flüsterte sie Paulo zu, als der junge Mann in den Wohnwagen gestiegen war, um Eistee zu holen.
Took kam zurück, bevor Paulo eine Antwort geben konnte. Sie setzten sich unter eine Segeltuchplane, die am Fahrzeug entlanggespannt war und als eine Art Verandadach diente.
Die beiden Männer sprachen über die Rituale der Tempelritter, über Reinkarnation, Sufi-Magie und über die katholische Kirche in Lateinamerika. Der junge Mann schien sehr gebildet zu sein, und es machte Spaß, ihnen zuzuhören - sie wirkten wie Fans, die über ihre Lieblingssportart sprachen, bestimmte Taktiken verteidigten und andere kritisierten.
Sie redeten über alles. Nur nicht über Engel.
Die Sonne brannte immer heißer, sie tranken mehr Tee, während Took, der immer freundlich lächelte, Wunderbares über das Leben in der Wüste erzählte - obwohl er warnte, dass Anfänger nie nachts hinausgehen sollten (der Polizist hatte also recht gehabt). Sie sollten auch die heißesten Stunden des Tages meiden.
»Eine Wüste besteht aus Morgen und Nachmittagen«, erzählte er. »Die restliche Zeit ist gefährlich.«
Chris verfolgte das Gespräch über lange Zeit. Sie war sehr früh aufgewacht, die Sonne schien immer gleißender, und da beschloss sie, die Augen zu schließen und etwas zu schlafen.
Als Chris aufwachte, kamen die Stimmen nicht mehr aus derselben Richtung. Die beiden Männer hatten sich auf die Rückseite des Wohnwagens zurückgezogen.
»Warum hast du deine Frau mitgebracht?«, hörte sie Took leise fragen.
»Weil ich in die Wüste gekommen bin«, antwortete Paulo ebenfalls leise. Took lachte.
»Dir entgeht das Beste an der Wüste. Die Einsamkeit.«
(>Was für ein anmaßender Kerl<, dachte Chris.)
»Erzähl mir doch mehr von den Walküren«, sagte Paulo.
»Sie werden dir helfen, deinen Engel zu finden«, gab der Amerikaner zurück. »Sie haben es mich gelehrt. Aber die Walküren sind eifersüchtig und hart. Sie versuchen, dem Gesetz der Engel zu folgen - und, wie du weißt, gibt es im Reich der Engel weder das Gute noch das Böse.«
»Jedenfalls nicht so, wie wir es verstehen.«
Das war Paulos Stimme. Chris wusste nicht, was »Walküren« bedeutete. Sie erinnerte sich vage, den Namen irgendwann als Titel einer Oper gehört zu haben.
»War es schwer für dich, deinen Engel zu sehen?«
»Das richtige Wort dafür ist >angsteinflößend<. Es ist ganz plötzlich passiert, als die Walküren hier durchgekommen sind. Eigentlich habe ich das Verfahren nur gelernt, um mich zu zerstreuen, denn damals verstand ich die Sprache der Wüste noch nicht und fand alles sehr nervig. Mein Engel ist mir auf dem Berg dort drüben erschienen. Ich saß da, hörte Musik auf meinem Walkman. Damals beherrschte ich das >zweite Bewusstsein< ganz und gar. Jetzt bin ich etwas zerstreuter.«
(Was zum Teufel war bloß das »zweite Bewusstsein«?)
»Hat dich das dein Vater gelehrt?«
»Nein. Und als ich ihn fragte, warum er mir nichts von Engeln erzählt habe, antwortete er mir, bestimmte Dinge seien so wichtig, dass wir sie allein entdecken müssten.«
Sie schwiegen eine Weile.
»Wenn du sie triffst, gibt es etwas, das den Kontakt erleichtert«, sagte der Junge. »Was?« Took lachte.
»Du wirst es sehen. Aber es wäre sehr viel besser gewesen, du wärst ohne deine Frau gekommen.«
»Hatte dein Engel Flügel?«, fragte Paulo.
Bevor Took antworten konnte, hatte sich Chris von ihrem Aluminiumstuhl erhoben, war um den Wohnwagen herumgegangen und hatte sich vor den beiden aufgebaut.
»Warum reitet er darauf herum, dass du besser allein gekommen wärst?«, fragte sie auf Portugiesisch. »Willst du, dass ich gehe?«
Took redete weiter mit Paulo und ignorierte Chris einfach. Sie wartete darauf, dass Paulo ihr antwortete, doch offenbar war sie auch für ihn unsichtbar geworden.
»Gib mir den Autoschlüssel!«, sagte sie entnervt.
»Was will deine Frau?«, fragte Took endlich.
»Sie will wissen, was das >zweite Bewusstsein< ist.«
Der junge Mann erhob sich.
»Setz dich, schließ die Augen, und ich zeige es dir!«, sagte er.
»Ich bin nicht in die Wüste gekommen, um Magie zu lernen oder mit Engeln zu reden«, sagte Chris. »Eigentlich bin ich nur gekommen, um meinen Mann zu begleiten.«
Took lachte. »Setz dich!«, sagte er.
Sie sah zu Paulo hinüber, aber seine Miene verriet nicht, was er von Tooks Vorschlag hielt. >Ich respektiere die Welt der Magie, aber meine ist es nicht<, dachte sie. Obwohl alle Freunde glaubten, sie teile die Anschauungen ihres Mannes, war das nicht der Fall. Sie redeten noch nicht einmal viel darüber. Chris begleitete Paulo zu bestimmten Orten, einmal hatte sie sogar sein zeremonielles Schwert transportiert, kannte den Jakobsweg [* Chris' Rolle bei Paulo Coelhos Pilgerreise ist in Auf dem Jakobsweg beschrieben.] und hatte - aufgrund der Umstände - etwas über sexuelle Magie gelernt! Mehr aber nicht.
J. hatte nie den Vorschlag gemacht, sie etwas zu lehren.
»Was soll ich tun?«, fragte sie Paulo.
»Was du willst«, war seine Antwort.
>Ich liebe Paulo<, dachte sie. Etwas über seine Welt zu lernen würde sie ihm sicher näherbringen. Sie ging zu dem Aluminiumstuhl, setzte sich darauf und schloss die Augen.
»Woran denkst du?«, fragte Took.
»Ich denke über das nach, worüber ihr gesprochen habt. Dass Paulo allein reisen sollte. Was das >zweite Bewusstsein< wohl sein mag. Ob sein Engel Flügel hat. Und ob mich das überhaupt interessieren sollte. Ich glaube, ich habe bisher noch nie über Engel geredet.«
»Nein, nein. Ich möchte wissen, ob etwas anderes in deinem Kopf passiert, etwas, das du nicht kontrollieren kannst.«
Sie spürte, wie er seine Hände rechts und links an ihren Kopf legte.
»Entspanne dich, entspanne dich!« Sein Tonfall war jetzt sanfter. »Woran denkst du?«
Da gab es Töne. Und Stimmen. Erst jetzt bemerkte sie, was sie beschäftigte, obwohl es ihr seit fast einem Tag im Kopf herumging.
»Ein Musikstück«, antwortete sie. »Ein Song, den ich gestern auf dem Weg hierher im Radio gehört habe, verfolgt mich unentwegt.«
Ja, tatsächlich summte sie die ganze Zeit diesen Song, konnte einfach nicht aufhören. Und jedes Mal, wenn sie am Ende angelangt war, fing sie wieder von vorn an.
Took bat sie, die Augen wieder zu öffnen.
»Das ist das >zweite Bewusstsein<, sagte er. »Dein zweites Bewusstsein singt diesen Song. Es könnte sich auch mit etwas anderem beschäftigen, mit irgendeiner Sorge beispielsweise. Falls du verliebt bist, wird diese Person in deinem Kopf sein. Oder jemand, den du vergessen möchtest. Das mit dem >zweiten Bewusstsein< ist nicht einfach: es arbeitet unabhängig von deinem Willen.«
Er wandte sich lachend zu Paulo.
»Ein Musikstück! Genau wie bei uns. Bei uns ist >das zweite Bewusstsein< auch immer voller Songs! Die Frauen sollten immer verliebt sein und keine Musikstücke im Kopf haben! Hast du nie einen geliebten Menschen im >zweiten Bewusstsein< gefangen gehalten?«
Beide lachten laut.
»Das sind die schlimmsten Lieben, schreckliche Lieben!«, fuhr Took fort. »Du bist auf Reisen, versuchst zu vergessen, aber das >zweite Bewusstsein< ist immer da und sagt: >Das hätte er wunderbar gefunden< - >Verdammt, wie wäre es schön, wenn er jetzt hier wäre.<«
Die beiden Männer krümmten sich vor Lachen. Chris überging ihren Heiterkeitsausbruch. Sie war überrascht, so etwas wie ein >zweites Bewusstsein< war ihr bislang nie in den Sinn gekommen.
Dann besaß sie also zwei Arten von mentaler Kraft. Die gleichzeitig funktionierten.
Took stand jetzt neben ihr.
»Schließ die Augen!«, sagte er wieder. »Und versuch, dich an den Horizont zu erinnern, den du gerade gesehen hast!«
Sie versuchte, ihn sich vorzustellen.
»Ich schaffe es nicht«, sagte sie mit geschlossenen Augen. »Ich habe nicht genau hingeschaut. Ich weiß genau, was es um mich herum alles gibt, aber an den Horizont erinnere ich mich nicht.«
»Dann öffne die Augen, und sieh ihn dir an!«
Chris sah um sich. Da gab es Berge, Felsen, Steine, eine niedrige, karge Vegetation. Und eine Sonne, vor der die Sonnenbrille ihre Augen kaum mehr schützen konnte.
»Du bist hier«, sagte Took mit sehr ernster Stimme. »Versuch zu begreifen, dass du hier bist und die Dinge, die dich umgeben, dich verändern - genau so, wie du auch sie veränderst.«
Chris starrte in die Wüste.
»Um in die unsichtbare Welt einzudringen, die eigenen Kräfte zu entwickeln, musst du in der Gegenwart leben, im Hier und Jetzt. Um in der Gegenwart zu leben, musst du das >zweite Bewusstsein< kontrollieren. Und zum Horizont schauen.«
Took bat sie, sich auf den Song zu konzentrieren, den sie unwillkürlich ständig summte. (Es war >When I Fall in Love<. Den ganzen Text kannte sie nicht, aber sie erfand eigene Worte oder sang einfach la-la-la.)
Chris konzentrierte sich. Kurz darauf war das Musikstück verschwunden. Sie selber war jetzt ganz wach und wartete gespannt darauf, was Took sagen würde Aber Took hatte offenbar nichts mehr zu sagen.
»Ich muss jetzt etwas allein sein«, sagte er. »Kommt in zwei Tagen wieder.«
Sie zogen sich in ihr klimatisiertes Hotelzimmer zurück, denn sie hatten keine Lust, sich den fünfzig Grad Celsius am Mittag auszusetzen. Kein Buch, nichts Interessantes.
»Lass uns die Wüste kennenlernen«, schlug Paulo vor.
»Es ist sehr heiß. Took sagte, es ist gefährlich. Lass uns das morgen machen.«
Paulo antwortete nicht. Er versuchte, daraus, dass er in einem Hotelzimmer eingeschlossen war, eine Art Lehrstunde zu machen. Er versuchte allem, was in seinem Leben geschah, einen Sinn zu geben, und redete nur, um Spannungen abzubauen.
Aber man konnte nicht ständig allem einen Sinn geben und die ganze Zeit über wach und angespannt sein. Paulo entspannte sich nie, und sie fragte sich, wann er das alles satt haben würde.
»Wer ist dieser Took eigentlich?«
»Sein Vater ist ein mächtiger Magier, der die >Tradition< in der Familie erhalten möchte - so wie Väter, die Ingenieure sind, möchten, dass der Sohn denselben Beruf ergreift.«
»Er ist jung, tut aber so, als wäre er ein reifer Mann«, meinte Chris. »Er vergeudet die besten Jahre seines Lebens in der Wüste.«
»Alles hat seinen Preis. Wenn Took dies alles hinter sich gebracht hat - und die >Tradition< nicht aufgibt -, wird er der Erste in einer Reihe von jungen Meistern sein, die in einer Welt zu Hause sind, die die Alten, obwohl sie sie verstehen, nicht mehr erklären können.«
Paulo legte sich aufs Bett und blätterte in dem einzigen vorhandenen Buch: dem Mojave-Hotelführer. Er wollte seiner Frau nicht erzählen, dass Took neben den Gründen, die er aufgeführt hatte, noch aus einem anderen Grund hier war: Er war ein Mensch mit ungewöhnlichen übersinnlichen Kräften, der von der >Tradition< darauf vorbereitet worden war, in dem Augenblick zu handeln, in dem sich die Pforten des Paradieses öffneten.
Chris wollte sich unterhalten. In einem Hotelzimmer festzusitzen vermittelte ihr ein Gefühl der Beklemmung, sie war entschlossen, nicht »allem einen Sinn zu geben«, wie ihr Mann es tat. Sie war nicht hier, weil sie einen Platz in einer Gemeinschaft von Erwählten einnehmen wollte.
»Ich verstehe nicht, was Took mir beibringen wollte«, sagte sie. »Die Einsamkeit und die Wüste können den Kontakt zur unsichtbaren Welt intensivieren, aber auch dazu führen, dass wir den Kontakt zu den anderen Menschen verlieren.«
»Er wird hier schon auch eine oder zwei Freundinnen haben«, meinte Paulo, der sich an eine Bemerkung seines Meisters zum Thema >Magie und Frauen< erinnerte und das Gespräch hier abschließen wollte.
>Wenn ich noch weitere neununddreißig Tage mit Paulo hier zusammen eingeschlossen verbringen muss, bringe ich mich um<, schwor sich Chris.
Am Nachmittag gingen sie in eine Snack-Bar auf der anderen Straßenseite. Paulo wählte einen Tisch am Fenster aus.
Sie bestellten sich riesige Eisbecher. Chris verbrachte ein paar Stunden damit, auf ihr >zweites Bewusstsein< zu achten, und nach und nach gelang es ihr, es besser zu kontrollieren. Ihr Appetit allerdings entzog sich jeder Kontrolle.
»Ich möchte, dass du die Leute, die vorbeikommen, genau anschaust.«
Sie tat, worum Paulo sie gebeten hatte. In nicht ganz einer halben Stunde waren fünf Leute am Fenster vorbeigekommen.
»Was hast du gesehen?«
Sie beschrieb alle fünf Personen eingehend - Kleidung, geschätztes Alter, was sie mit sich trugen. Aber es schien nicht das zu sein, was er wissen wollte. Sosehr sich Chris auch bemühte, eine bessere Antwort zu finden, es gelang ihr nicht.
»Also gut«, sagte er schließlich. »Ich werde dir sagen, was ich wollte, dass es dir auffiel. Alle Leute, die hier vorbeigekommen sind, haben zu Boden geschaut.«
Sie warteten eine Weile, bis wieder jemand vorbeikam. Paulo hatte recht.
»Took hat dich gebeten, zum Horizont zu blicken. Tu es!«
»Was meinst du damit?«
»Wir alle schaffen um uns herum eine Art >magischen Raum<. Im Allgemeinen ist es ein Umkreis von fünf Metern Durchmesser - und wir achten auf alles, was darin ist. Egal ob es sich um Menschen, Tische, Telefone oder Schaufenster handelt: Wir versuchen, diese kleine Welt, die wir selber geschaffen haben, unter Kontrolle zu halten.
Die Magier hingegen blicken immer in die Ferne. Sie erweitern diesen >magischen Raum< und versuchen sehr viel mehr Dinge zu kontrollieren. Sie nennen das >zum Horizont blicken<.«
»Und warum soll ich das machen?«
»Weil du hier bist. Du wirst sehen, wie sich die Dinge verändern.«
Als sie aus der Snack-Bar traten, achtete sie auf Dinge in der Ferne. Sie sah die Berge, die wenigen Wolken, die erst auftauchten, wenn die Sonne unterging, und ihr war so - und es war ein merkwürdiges Gefühl -, als sähe sie die Luft um sich herum.
»Alles, was Took gesagt hat, ist wichtig«, sagte er. »Er hat seinen Engel schon gesehen und mit ihm gesprochen, und er wird dich benutzen, um es mir beizubringen. Aber er kennt die Macht der Worte; er weiß, dass Ratschläge, die nicht gehört werden, wieder zu dem zurückkehren, der sie gegeben hat, und damit ihre Energie verlieren. Er muss sich sicher sein, dass du an dem interessiert bist, was er sagt.«
»Warum zeigt er es dir nicht direkt?«
»Es gibt eine ungeschriebene Regel innerhalb der Tradition: Ein Meister wird niemals einen Schüler eines anderen Meisters etwas lehren. Ich bin Schüler von J. Aber er will mir helfen. Deshalb hat er dich dazu erwählt.«
»Hast du mich deswegen mitgenommen?«
»Nein. Ich habe dich mitgenommen, weil ich Angst hatte, allein in der Wüste zu sein.«
>Er hätte doch sagen können, er täte es aus Liebe<, dachte sie, während sie durch den Ort schlenderten. Das wäre die bessere Antwort gewesen.
Sie parkten den Wagen am Rand einer schmalen Straße aus gestampfter Erde. Took hatte sie angewiesen, immer zum Horizont zu schauen. Die zwei Tage waren vergangen, sie würden ihn am Abend treffen - und sie freute sich darauf.
Aber es war noch Morgen. Und die Tage in der Wüste waren lang.
Sie schaute zum Horizont: Bergzüge, die sich vor ein paar Millionen Jahren unvermittelt aufgetürmt hatten und in einer langen Kette quer durch die Wüste verliefen. Obwohl diese Erdbeben vor langer Zeit stattgefunden hatten, war heute noch zu sehen, wo die Erde aufgebrochen war - der ebene Boden stieg sanft bis zu den Bergen an, bis in einer bestimmten Höhe eine Art Wunde klaffte, aus der Felsen steil in den Himmel ragten.
Zwischen den Bergen und dem Wagen lag das steinige Tal mit niedriger Vegetation, Dornenbüschen, Yuccas, Kakteen - das Leben hielt sich trotzig in einem ihm feindlichen Umfeld. Inmitten der Ebene hob sich ein riesiger weißer Fleck ab, der so groß war wie fünf Fußballfelder. Er glitzerte in der Morgensonne wie ein Schneefeld.
»Salz. Ein Salzsee.«
Ja. Diese Wüste war sicher einst auch einmal ein Meer gewesen. Einmal im Jahr flogen die Möwen hundert Kilometer vom Pazifik bis hierher in die Wüste, wo sie eine Krabbenart fraßen, die mit dem Beginn der Regenzeit auftauchte. Der Mensch vergisst seine Ursprünge, die Natur niemals.
»Er muss etwa fünf Kilometer entfernt sein«, sagte Chris.
Paulo sah auf seine Uhr. Es war noch früh. Sie hatten zum Horizont gesehen, und der Horizont hatte ihnen einen Salzsee gezeigt. Eine Stunde hin, eine Stunde zurück, ohne dass sie Angst zu haben brauchten, dass die Sonne zu stark würde.
Beide hängten sich ihre Wasserflasche an den Gürtel. Paulo steckte Zigaretten und eine Bibel in eine kleine Tasche. Wenn sie bei dem See ankämen, würde er vorschlagen, gemeinsam einen zufällig ausgewählten Text zu lesen.
Sie machten sich auf den Weg. Chris behielt ihren Blick wenn immer möglich auf den Horizont gerichtet. Dabei passierte etwas sehr Merkwürdiges: Sie fühlte sich größer, freier, als hätte ihre Energie zugenommen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren bereute sie, sich nicht mehr für Paulos >Konspiration< interessiert zu haben. Sie hatte sich immer vorgestellt, dass es darin um schwierige Rituale ging, die nur geübte und disziplinierte Menschen durchführen konnten.
Sie gingen eine halbe Stunde lang, ohne sich zu beeilen. Der Salzsee schien seine Lage verändert zu haben. Er war immer gleich weit entfernt.
Sie gingen eine weitere Stunde. Sie hatten bestimmt schon fast sieben Kilometer zurückgelegt, aber der See war nur ein ganz kleines bisschen näher gekommen. Es war inzwischen schon spät am Morgen. Die Sonne brannte immer heißer.
Paulo blickte zurück. Der Wagen war immer noch zu sehen, ein winziger roter Fleck. Sie hatten sich also nicht verlaufen. Doch etwas viel Wichtigeres fiel ihm auf.
»Lass uns hier anhalten!«, bat er.
Sie verließen den Weg und gingen zu einem Felsen, der ein wenig Schatten gab. Sie mussten sich eng an ihn schmiegen, da die Sonne fast senkrecht stand. In der Wüste gab es nur früh am Morgen oder am Abend längere Schatten und auch nur bei den Felsen.
»Wir haben uns verrechnet«, sagte er.
Chris war das auch schon aufgefallen. Sie wunderte sich, da Paulo Entfernungen sonst immer richtig schätzte.
»Ich weiß, warum wir uns verrechnet haben«, fuhr er fort. »Weil in der Wüste uns nichts erlaubt, Vergleiche anzustellen. Wir sind es gewohnt, Entfernungen nach der Größe der Dinge zu berechnen. Wir kennen die ungefähre Höhe eines Baumes. Oder eines Lichtmastes. Oder eines Hauses. Das hilft uns abzuschätzen, wie weit die Dinge, die wir sehen, von uns entfernt sind.«
Hier hatten sie keine Vergleichsmöglichkeiten. Hier gab es Steine, die sie noch nie zuvor gesehen hatten, Berge, deren Höhe sie nicht kannten, und die niedrige Vegetation. Paulo war es erst aufgefallen, als er den Wagen sah, denn von seinem Wagen wusste er, wie groß er war. Und darum wusste er auch, dass sie schon mehr als sieben Kilometer gegangen sein mussten.
»Lass uns etwas ausruhen und dann umkehren.«
>Was soll's?<, dachte sie. Sie betrachtete weiterhin fasziniert den Horizont. Es war eine vollkommen neue Erfahrung.
»Diese Geschichte mit dem Horizont, Paulo...«
Er wartete darauf, dass sie weiterredete. Er wusste, dass sie Angst hatte, etwas Dummes zu sagen, irgendeine esoterische Bedeutung erfinden würde, wie das viele Menschen taten, die mit der >Tradition< nicht vertraut waren.
»Mir ist so ... ich kann's nicht erklären ... als wäre meine Seele gewachsen.«
Ja, dachte Paulo. Sie war auf dem richtigen Weg.
»Wenn ich früher in die Ferne geschaut habe, war, was ich sah, wirklich weit weg, verstehst du? Es schien nicht zu meiner Welt zu gehören. Denn ich schaute sonst immer in die Nähe, auf die Dinge, die mich umgaben.
Bis ich vor zwei Tagen begonnen habe, zum Horizont zu schauen. Und begriffen habe, dass meine Welt neben Tischen, Stühlen, Gegenständen auch noch Berge, Wolken, Himmel enthält. Und meine Seele - meine Seele sieht und berührt all dies.«
>Verdammt! Das hat sie wirklich gut beschrieben<, dachte Paulo.
»Meine Seele scheint gewachsen zu sein«, wiederholte Chris.
Paulo öffnete die Tasche, zog ein Päckchen Zigaretten hervor und zündete eine an.
»Jeder kann es sehen. Aber wir schauen nur in die Nähe, nach unten und nach innen. So nimmt unsere Kraft ab, und, um deine Worte zu benutzen, >unsere Seele schrumpft<. Denn sie umfasst nichts außer uns selber. Sie umfasst keine Meere, Berge, anderen Menschen, nicht einmal die Wände der Häuser, in denen wir wohnen.«
Paulo gefiel der Satz, »meine Seele ist gewachsen«. Hätte er mit einem Angehörigen der >Tradition< gesprochen, hätte er sich mit Sicherheit komplizierte Erklärungen anhören müssen im Stil von »mein Bewusstsein hat sich erweitert« oder Ähnliches. Aber seine Frau hatte es sehr viel treffender gesagt.
Die Zigarette war aufgeraucht. Es war unsinnig, bis zum See zu gehen, die Temperatur würde bald fünfzig Grad im Schatten erreichen. Der Wagen war weit weg, aber dennoch gut sichtbar, und sie konnten ihn in anderthalb Stunden erreichen.
Sie machten sich auf den Rückweg. Sie waren von der Wüste umgeben, von dem unendlichen Horizont, und das Gefühl von Freiheit wuchs in ihren Seelen.
»Lass uns unsere Kleidung ausziehen!«, schlug er vor.
»Paulo. Jemand könnte uns sehen«, sagte Chris automatisch.
Paulo lachte. Sie konnten meilenweit in die Runde sehen. Am Vortag waren auf ihrem Morgen- wie auf ihrem Abendspaziergang jeweils nur drei Wagen vorbeigekommen, und sie hatten sie schon lange gehört, bevor sie neben ihnen aufgetaucht waren. Die Wüste war Sonne, Wind und Stille.
»Nur unsere Engel sehen uns«, antwortete er. »Und die haben uns schon oft nackt gesehen.«
Er zog seine Bermudas und das T-Shirt aus, legte den Gürtel mit der Wasserflasche ab und steckte alles in die Tasche, die er mitgebracht hatte.
Chris musste an sich halten, um nicht loszulachen. Sie zog sich auch aus, und kurz darauf gingen zwei Menschen in Turnschuhen, nur mit Hut und Sonnenbrille durch die Wüste - einer trug zusätzlich eine schwere Tasche. Bestimmt ein komischer Anblick für jemanden, der sie jetzt hätte sehen können.
Sie gingen eine halbe Stunde. Der Wagen war ein Punkt am Horizont, aber anders als der See wurde er immer größer, je mehr sie sich ihm näherten. Bald würden sie ihn erreichen.
Plötzlich fühlte sich Chris unendlich matt. »Lass uns einen Augenblick ausruhen!«, bat sie. Paulo blieb sofort stehen.
»Ich kann die Tasche nicht mehr tragen«, klagte er. »Ich bin müde.«
Wieso bloß konnte er die Tasche nicht mehr tragen? Mit den beiden Wasserflaschen konnte sie doch nicht mehr als drei Kilo wiegen.
»Du musst aber. Unser Wasser ist da drin.«
Ja, Chris hatte recht.
»Dann lass uns schnell gehen!«, sagte er verstimmt.
>Vor wenigen Minuten war alles noch so romantisch<, dachte sie. Und jetzt war er schlecht gelaunt. Sie würde sich nicht darum kümmern. Sie war müde.
Sie gingen noch ein wenig weiter, aber sie wurden immer müder. Sie wollte nichts mehr sagen, ihn nicht noch mehr verärgern.
>So ein Trottel!<, dachte sie. >Inmitten all dieser Schönheit schlecht gelaunt sein, und das, nachdem wir über so interessante Dinge gesprochen haben wie ...<
Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, aber es war auch nicht wichtig. Jetzt war sie auch zu träge zum Denken.
Paulo blieb stehen und stellte die Tasche auf die Erde.
»Lass uns ein bisschen ausruhen!«, sagte er.
Er wirkte nicht mehr schlecht gelaunt. Auch er schien immer müder zu werden. Genau wie sie.
Es gab nirgendwo Schatten. Aber auch Chris musste sich ausruhen.
Sie setzten sich auf die heiße Erde. Dass sie nackt waren, dass der Sand ihnen die Haut verbrannte, war ihnen egal. Sie mussten ein wenig rasten. Nur ein bisschen.
Jetzt konnte sie sich wieder an das erinnern, worüber sie sich unterhalten hatten: Horizonte. Sie bemerkte, dass sie jetzt, ob sie wollte oder nicht, das Gefühl hatte, ihre Seele sei gewachsen. Außerdem hatte das >zweite Bewusstsein< ganz aufgehört zu arbeiten. Sie dachte weder an den Song noch an andere, sich ständig wiederholende Dinge, sie dachte nicht einmal daran, dass jemand sie beobachten könnte, während sie nackt durch die Wüste wanderten.
Alles verlor an Bedeutung: Sie fühlte sich entspannt, sorglos, frei.
Sie schwiegen minutenlang. Es war heiß, aber die Hitze störte sie nicht. Und wenn doch, hatten sie ja noch genug Wasser in den Flaschen.
Paulo stand als Erster auf.
»Ich glaube, wir sollten etwas weitergehen. Es ist nicht mehr weit bis zum Wagen. Dort ruhen wir uns dann bei laufender Klimaanlage aus.«
Sie war müde. Sie wollte ein bisschen schlafen. Dennoch stand sie auf.
Sie gingen wieder ein Stück. Der Wagen war jetzt schon ziemlich nah. Nicht mehr als zehn Gehminuten entfernt.
»Wenn wir schon so nah sind, warum schlafen wir dann nicht ein bisschen? Nur fünf Minuten.«
Fünf Minuten schlafen? Warum sagte er das? Hatte er ihre Gedanken erraten? Und war er auch müde?
Was war schon schlimm daran, fünf Minuten zu schlafen? Sie würden braun werden, dachte sie. Als wären sie am Strand.
Sie setzten sich wieder hin. Sie waren, die Pausen nicht mitgezählt, mehr als eine Stunde gegangen. Was waren dagegen fünf Minuten schlafen?
Sie hörten das Motorengeräusch eines Wagens. Eine halbe Stunde früher wären sie dabei noch aufgeschreckt und hätten sich blitzschnell angezogen.
Aber jetzt war ihnen das vollkommen egal. Wer gucken wollte, sollte es tun. Sie brauchten sich vor niemandem zu rechtfertigen.
Chris wollte nur noch schlafen.
Sie sahen einen Lastwagen auf der Straße auftauchen, an ihrem Wagen vorbeifahren und ein Stück weiter anhalten. Ein Mann stieg aus und ging zu ihrem Auto. Schaute hinein, ging darum herum, schaute sich alles genau an.
>Das könnte ein Dieb sein<, dachte Paulo. Er stellte sich vor, wie der Kerl den Wagen stahl und sie beide in der unendlichen Weite zurückließ, ohne eine Möglichkeit, wieder nach Borrego Springs zurückzukehren. Paulo hatte den Schlüssel im Zündschloss stecken lassen, aus Angst, ihn in der Wüste zu verlieren.
Aber sie waren im Landesinneren der Vereinigten Staaten. In New York, vielleicht - aber hier musste man keine Angst haben, dass einem das Auto geklaut wurde.
Chris betrachtete die Wüste. Wie golden alles war! Ganz anders als abends, wenn die Sonne die Wüste in ein rosiges Licht tauchte. Ein wohliges Gefühl der Ruhe durchströmte ihren Körper. Die Sonne störte überhaupt nicht - die Leute hatten ja keine Ahnung, wie schön tagsüber die Wüste sein konnte!
Der Mann hatte aufgehört, den Wagen zu inspizieren, und legte die Hand über die Augen. Er hielt nach ihnen Ausschau.
Sie war nackt... das würde er am Ende sehen. Aber was machte das schon? Paulo schien es auch nicht besonders aufzuregen.
Der Mann kam jetzt in ihre Richtung. Das Gefühl von Leichtigkeit und Euphorie wurde immer größer, obwohl die Mattigkeit dazu führte, dass sie sich nicht von der Stelle rührten. Die Wüste war golden und schön. Und alles war ruhig, friedlich - die Engel, ja, die Engel würden sich bald zeigen! Deshalb waren sie in die Wüste gegangen - um mit den Engeln zu reden.
Chris war nackt, schämte sich aber nicht. Sie war ein freier Mensch.
Der Mann blieb vor ihnen stehen. Er sprach eine Sprache, die sie nicht verstanden.
Endlich merkte Paulo, dass der Mann tatsächlich englisch sprach. Sie befanden sich schließlich in den Vereinigten Staaten von Amerika.
»Kommen Sie mit mir!«, sagte er.
»Wir ruhen uns ein bisschen aus«, antwortete Paulo. »Fünf Minuten.«
Der Mann hob die Tasche auf und öffnete sie.
»Ziehen Sie das an«, sagte er zu Chris und reichte ihr ihre Wäsche.
Sie stand mühsam auf und gehorchte ihm. Sie war zu müde, um zu widersprechen.
Er befahl auch Paulo, sich anzuziehen. Paulo war ebenfalls zu müde, um zu widersprechen. Der Mann sah die beiden vollen Wasserflaschen, öffnete eine, füllte den kleinen Deckel und befahl ihnen zu trinken.
Sie hatten keinen Durst. Taten aber, was der Mann ihnen gesagt hatte. Sie waren sehr ruhig, in Frieden mit der Welt - ohne den geringsten Wunsch zu streiten.
Sie würden alles tun, jedem Befehl gehorchen, solange man sie in Frieden ließ.
»Lassen Sie uns ein wenig gehen«, sagte der Mann.
Sie konnten schon nicht mehr viel denken - nur die Wüste betrachten. Sie würden alles tun, solange dieser Fremde sie bald schlafen lassen würde.
Der Mann ging mit ihnen bis zum Wagen, befahl ihnen, sich hineinzusetzen und den Motor anzumachen. >Wohin er uns wohl bringen wird?<, überlegte Paulo, machte sich aber nicht ernstlich Sorgen - die Welt war in Frieden, und er wollte einfach nur ein bisschen schlafen.
Als er aufwachte, drehte sich ihm der Magen um. Ihm war sterbensübel. »Bleiben Sie noch einen Augenblick lang ruhig liegen!« Jemand redete mit ihm, aber in seinem Kopf herrschte ein Riesendurcheinander. Er erinnerte sich noch an das goldene Paradies, in dem nichts als Frieden und Ruhe herrschte.
Er versuchte, sich zu bewegen, und hatte das Gefühl, als würden sich Tausende von Nadeln in seinen Kopf bohren.
>Ich werde einfach weiterschlafen<, dachte er. Aber es gelang ihm nicht - die Nadeln gaben keine Ruhe. Der Magen rumorte immer weiter.
»Ich muss mich übergeben«, sagte er noch. Als er die Augen öffnete, sah er, dass er in einem kleinen Supermarkt zwischen Kühltruhen und Regalen mit Lebensmitteln auf dem Boden saß. Der Anblick verursachte ihm noch mehr Übelkeit. Dann bemerkte er neben sich einen Mann, den er noch nie gesehen hatte.
Der half ihm auf. Nun stellte Paulo fest, dass er neben den imaginären Nadeln im Kopf noch eine Nadel im Arm hatte. Die allerdings war echt.
Der Mann nahm den Infusionsbeutel, der an der Nadel hing, und begleitete Paulo zur Toilette. Dort erbrach Paulo ein bisschen Wasser, weiter nichts.
»Was ist los? Was bedeutet diese Nadel?«
Das war Chris' Stimme. Zurück im kleinen Supermarkt sah Paulo, dass sie ebenfalls eine Infusion bekam.
Paulo fühlte sich etwas besser. Er brauchte die Hilfe des Mannes nicht mehr.
Er half Chris auf und führte sie ins Bad, wo auch sie sich übergab.
»Ich werde Ihren Wagen nehmen, um meinen zu holen«, sagte der Fremde. »Ich lasse den Schlüssel stecken. Fahren Sie per Anhalter hin, sobald es Ihnen wieder besser geht.«
Langsam erinnerte sich Paulo an das, was geschehen war, aber schon wurde ihm erneut übel, und er musste sich noch einmal übergeben.
Als er zurückkam, war der Mann gegangen. Da bemerkten sie, dass noch jemand da war - ein sechzehn- oder siebzehnjähriger Jugendlicher.
»Noch eine Stunde«, sagte er. »Dann ist die Infusion durchgelaufen, und Sie können gehen.«
»Wie viel Uhr ist es?«
Der junge Mann sagte es. Paulo bemühte sich, aufzustehen - er hatte eine Verabredung und wollte sie unbedingt einhalten.
»Ich muss Took sehen«, sagte er zu Chris.
»Setzen Sie sich«, sagte der junge Mann. »Erst wenn die Infusion durchgelaufen ist.«
Die Bemerkung war überflüssig. Paulo hatte weder die Kraft, noch brachte er den Willen auf, um bis zur Tür zu gehen.
>Das war's dann mit der Verabredung<, dachte er. Aber das war jetzt unwichtig. Je weniger er nachdachte, desto besser.
Nur fünfzehn Minuten«, sagte Took. »Dann kommt der Tod, und du merkst es nicht einmal.« Sie saßen wieder im alten Wohnwagen. Es war am nächsten Nachmittag, und wieder war ringsum alles in rosa Licht getaucht. Ganz anders als die Wüste am Vormittag zuvor, die ganz golden gewesen war - unendlicher Friede, Erbrechen und Übelkeit.
Seit vierundzwanzig Stunden hatten sie nichts zu sich nehmen oder schlafen können - sie erbrachen alles, was sie gegessen hatten. Aber das merkwürdige Gefühl ließ allmählich nach.
»Wie gut, dass sich euer Horizont geweitet hat«, sagte der junge Mann. »Und dass ihr an Engel gedacht habt. Es ist tatsächlich ein Engel gekommen.«
>Er hätte besser sagen sollen, dass unsere Seele gewachsen ist<, dachte Paulo. Außerdem war der Mann, der erschienen war, kein Engel gewesen - er hatte einen alten Laster gehabt und englisch gesprochen.
»Lasst uns gehen«, sagte Took und bat Paulo, den Wagen zu starten.
Er setzte sich einfach auf den Beifahrersitz, während Chris, auf Portugiesisch fluchend, auf dem Rücksitz Platz nahm. Took begann, Anweisungen zu geben: »Fahr hier längs, da längs, fahr schnell, damit der Wagen genügend kühlt, mach die Klimaanlage aus, damit der Motor nicht heißläuft!« Immer wieder verließen sie die buckligen Sandpisten und fuhren in die Wüste hinein. Aber Took kannte sich aus, er machte keine Fehler wie sie.
»Was ist gestern passiert?«, fragte Chris zum hundertsten Mal. Sie spürte, dass Took wollte, dass sie fragte; obwohl er seinen Schutzengel gesehen hatte, verhielt er sich wie jeder junge Mann in seinem Alter.
»Sonnenstich«, sagte er schließlich. »Habt ihr noch nie einen Film über die Wüste gesehen?«
Selbstverständlich. Durstige Menschen, die sich auf der Suche nach ein wenig Wasser durch den Sand schleppen.
»Wir hatten keinen Durst. Die beiden Wasserflaschen waren voll.«
»Davon rede ich gar nicht«, fiel ihm Took ins Wort. »Ich meine die Kleidung.«
Die Kleidung! Die Araber mit ihren langen Gewändern, mehrere Umhänge - einer über dem anderen. >Ja, wie konnten wir nur so dumm sein?<, dachte Paulo. Dabei hatte er schon so viel darüber gehört, war schon in drei anderen Wüsten gewesen... und hatte noch nie den Wunsch gehabt, sich auszuziehen. Doch an jenem Morgen, als der See, zu dem sie unterwegs waren, einfach nicht näher kam... >Wie konnte ich auf so eine alberne Idee kommen?<, dachte Paulo.
»Nachdem ihr euch ausgezogen habt, ist das Wasser in eurem Körper sofort verdunstet. Wegen des vollkommen trockenen Klimas schwitzt man nicht einmal. Nach fünfzehn Minuten wart ihr bereits dehydriert. Man hat keinen Durst - man ist nur leicht orientierungslos.«
»Und die Erschöpfung?«
»Die Erschöpfung ist der nahende Tod.«
>Ich habe bemerkt, dass es der Tod war<, sagte sich Chris. Wenn sie irgendwann einmal vor der Wahl stünde, wie sie auf sanfte Art diese Welt verlassen könnte, würde sie wieder nackt durch die Wüste gehen.
»Die meisten Leute, die in der Wüste sterben, tun es, obwohl ihre Wasserflaschen voll sind. Die Dehydrierung vollzieht sich so schnell, dass man sich fühlt, als hätte man eine ganze Flasche Whisky getrunken oder eine Überdosis Beruhigungsmittel genommen.«
Took bat sie, von nun an ständig Wasser zu trinken - auch wenn sie keinen Durst hatten, denn das Wasser musste im Körper bleiben.
»Aber es ist ein Engel erschienen«, sagte er.
Bevor Paulo noch sagen konnte, was er darüber dachte, bat ihn Took, in der Nähe eines Hügels anzuhalten.
»Wir steigen hier aus und gehen den Rest des Weges zu Fuß.«
Sie gingen einen Pfad entlang, der den Hügel hinaufführte. Sie waren erst wenige Minuten gegangen, als Took einfiel, dass er die Taschenlampe im Wagen vergessen hatte. Er ging zurück, um sie zu holen, und blieb dann eine Weile auf der Kühlerhaube sitzen und schaute in die Weite.
>Chris hat recht. Einsamkeit tut den Menschen nicht gut. Er verhält sich eigenartig<, dachte Paulo, während er zu Took hinuntersah.
Kurz darauf war er wieder bei ihnen, und sie gingen weiter.
Nach vierzig Minuten hatten sie ohne größere Schwierigkeiten den Gipfel des Hügels erreicht. Hier wuchs eine karge Vegetation, und Took bat seine Begleiter, sich mit dem Gesicht nach Norden hinzusetzen. Er war jetzt weniger mitteilsam, sondern konzentriert und in sich gekehrt.
»Ihr seid auf der Suche nach Engeln hierhergekommen«, sagte er, während er sich neben sie setzte.
»Ich bin deswegen gekommen«, sagte Paulo. »Und ich weiß, dass du mit einem gesprochen hast.«
»Vergiss meinen Engel! Viele Leute hier in der Wüste haben schon mit ihrem Engel gesprochen oder ihn gesehen. Und auch viele Leute in den Städten, auf dem Meer und in den Bergen.«
Seine Stimme klang ungeduldig.
»Denk an deinen Schutzengel!«, fuhr er fort. »Denn mein Engel ist hier, und ich kann ihn sehen. Dies hier ist mein heiliger Ort.«
Paulo und Chris erinnerten sich beide an die erste Nacht in der Wüste. Und sie stellten sich wieder ihren Engel vor, mit seinem Gewand und seinen Flügeln.
»Ihr solltet immer einen heiligen Ort haben. Meiner war früher einmal eine kleine Wohnung, danach auch ein Platz in Los Angeles, und jetzt ist er hier. Ein geheiligter Winkel, in dem sich eine Tür zum Himmel öffnet und den Himmel zu uns hereinlässt.«
Die beiden betrachteten Tooks heiligen Ort: Felsen, harter Boden, niedrige Vegetation. Vielleicht waren hier nachts ein paar Schlangen und Koyoten unterwegs. Took wirkte wie in Trance.
»Hier habe ich meinen Engel sehen können, obwohl ich wusste, dass er überall ist, dass sein Gesicht das Gesicht der Wüste ist, in der ich lebe, oder das der Stadt, in der ich achtzehn Jahre lang gelebt habe.
Ich habe mit meinem Engel gesprochen, weil ich an seine Existenz glaube. Weil ich die Hoffnung hatte, ihm zu begegnen. Und weil ich ihn liebte.«
Paulo und Chris wagten nicht zu fragen, worüber Took mit dem Engel geredet hatte.
Took fuhr fort:
»Jeder Mensch kann mit vier Arten von Wesen in der unsichtbaren Welt in Kontakt treten: den Elementargeistern, den körperlosen Geistern, den Heiligen und den Engeln.
Mit den Elementargeistern - denen des Feuers, der Erde, des Wassers und der Luft - nehmen wir über Rituale Kontakt auf. Weil wir dazu neigen, uns die reinen Kräfte der Natur - Erdbeben, Blitze, Vulkane - als Wesen vorzustellen, treten sie als Gnome, Sylphen, Salamander und Undinen in Erscheinung; doch der Mensch kann die Macht der Elementargeister nur nutzen. Er wird nie etwas von ihnen lernen.«
>Warum sagt er das?<, fragte sich Paulo. >Hat er etwa vergessen, dass ich auch ein Meister der Magie bin?<
Took fuhr mit seiner Erklärung fort.
»Die körperlosen Geister sind jene, die sich zwischen dem einen und dem anderen Leben hin- und herbewegen, und wir treten über ein Medium mit ihnen in Kontakt. Einige sind große Meister - aber wir können hier auf Erden alles lernen, was sie uns lehren können, weil auch sie es hier gelernt haben. Wir sollten sie am besten ziehen lassen und unseren eigenen Horizont betrachten, um hier die Weisheit zu finden, die auch sie einst hier gefunden haben.«
>Paulo wird das alles bereits wissen<, dachte Chris. Vermutlich erzählt Took das alles nur mir.<
Ja, Took sprach zu dieser Frau - ihretwegen war er hier. Paulo konnte er nichts beibringen, denn der war zwanzig Jahre älter und erfahrener als er, und würde er nur einmal richtig nachdenken, würde er selber herausfinden, wie er mit seinem Engel sprechen konnte. Paulo war Schüler von J. - und was hatte Took nicht schon alles über J. gehört! Beim ersten Treffen hatte er versucht, Paulo zum Reden zu bringen, aber die Frau hatte alles durcheinander gebracht. Er bekam einfach nicht aus ihm heraus, welche Techniken, Verfahren und Rituale J. benutzte.
Diese erste Begegnung hatte ihn schwer enttäuscht. Er hatte Zweifel bekommen und gedacht, dass Paulo vielleicht gar nicht J.s Schüler war. Oder dass sich J. möglicherweise zum ersten Mal bei der Wahl eines Schülers geirrt hatte - und dass, wenn es so war, die >Tradition< schon bald darüber im Bilde wäre. Dennoch hatte er in der Nacht nach ihrer ersten Begegnung von seinem Schutzengel geträumt.
Und sein Engel hatte ihn gebeten, die Frau in den Weg der Magie einzuführen. Nur einzuführen. Ihr Mann würde den Rest übernehmen.
Im Traum hatte er seinem Engel geantwortet, dass er ihr bereits beigebracht habe, was das >zweite Bewusstsein< sei, und sie auch aufgefordert habe, zum Horizont zu blicken. Der Engel hatte erwidert, er solle auf den Mann achten, aber sich um die Frau kümmern. Und dann war er verschwunden.
Took hatte gelernt, sich diszipliniert zu verhalten. Jetzt tat er, worum sein Engel ihn gebeten hatte - und er hoffte, dass dies oben gesehen wurde.
»Nach den körperlosen Wesen«, nahm er seinen Faden wieder auf, »kommen die Heiligen. Sie sind die wahren Meister. Sie haben einst bei uns gelebt und sind jetzt im Licht. Die große Lehre der Heiligen ist ihr Leben hier auf Erden. Darin ist alles enthalten, was wir wissen müssen, es reicht, ihnen nachzueifern.«
»Und wie rufen wir die Heiligen an?«, fragte Chris.
»Durch das Gebet«, antwortete Paulo an Tooks Stelle. Er war nicht eifersüchtig - obwohl ihm klar war, dass der Amerikaner vor Chris glänzen wollte.
>Er achtet die 'Tradition'<, dachte er. >Er wird meine Frau dazu benutzen, mich etwas zu lehren. Aber warum spricht er nur über so elementare Dinge, warum wiederholt er, was ich längst weiß?<
»Wir rufen die Heiligen durch das ständige Gebet an«, fuhr Paulo fort. »Und wenn sie dann in der Nähe sind, verändert sich alles. Wunder geschehen.«
Took bemerkte den aggressiven Tonfall des Brasilianers. Aber er würde nichts über den Traum erzählen, in dem er mit seinem Engel gesprochen hatte, denn er war Paulo keine Erklärung schuldig.
»Und schließlich«, ergriff Took wieder das Wort, »gibt es die Engel.«
Vielleicht wusste der Brasilianer über dieses Thema nichts, obwohl er über die anderen einiges zu wissen schien. Took machte eine lange Pause. Schwieg, betete leise, dachte an seinen Engel und hoffte, dass dieser jedes Wort mitbekam. Und er bat seinen Engel auch, ihm zu helfen, alles ganz klar und deutlich sagen zu können, denn es war so schwierig, das zu erklären.
»Engel sind tätige Liebe. Die nie stillsteht, die kämpft, um zu wachsen, die jenseits von Gut und Böse ist. Die alles verschlingende, alles zerstörende, alles verzeihende Liebe. Die Engel sind aus dieser Liebe gemacht, und sie sind zugleich deren Boten.
Die Liebe des Todesengels, der eines Tages unsere Seele mitnehmen wird, und die des Schutzengels, der sie wieder zurückbringt. Tätige Liebe.«
»Liebe im Kriegszustand«, sagte sie.
»Es gibt keine Liebe in Frieden. Wer in der Liebe Frieden sucht, ist verloren.«
>Was versteht so ein junger Kerl schon von der Liebe?<, dachte Chris. >Er lebt allein in der Wüste und ist möglicherweise noch nie verliebt gewesen.< Dennoch konnte sie sich, sosehr sie sich auch bemühte, an keinen einzigen Augenblick erinnern, in dem Liebe ihr Frieden gebracht hatte. Sie war immer mit Schmerzen, Ekstasen, intensiver Freude und tiefer Trauer verbunden gewesen.
Took wandte sich an beide:
»Lasst uns eine Weile schweigen, damit unsere Engel die Liebe hinter unserem Schweigen hören.«
Chris dachte weiter über die Liebe nach. Ja, der junge Mann schien recht zu haben, obwohl sie hätte schwören mögen, dass er das alles nur theoretisch wusste.
>Die Liebe gibt nur Ruhe, kurz bevor sie stirbt. Wie eigenartig.< Wie eigenartig war das alles, was sie da gerade erlebte, vor allem dieses Gefühl, dass »ihre Seele gewachsen« war.
Sie hatte Paulo nie gebeten, ihr etwas beizubringen - sie glaubte an Gott, und das reichte. Sie respektierte die Suche ihres Mannes, aber möglicherweise - weil er ihr so nahe stand oder weil sie wusste, dass er Fehler hatte wie alle anderen Menschen auch - hatte sie sich nie dafür interessiert.
Bei Took aber war das anders. Er hatte gesagt: »Versuche, zum Horizont zu blicken! Achte auf dein >zweites Bewusstsein<!« Und sie hatte gehorcht. Jetzt, da ihre Seele gewachsen war, hatte sie herausgefunden, wie gut diese Suche war und wie viel Zeit sie vergeudet hatte.
»Warum müssen wir mit unseren Engeln sprechen?«, fragte Chris in die Stille hinein.
»Damit wir mit ihnen die Welt entdecken.«
Took störte ihre Frage nicht. Wenn sie sie jedoch Paulo gestellt hätte, wäre er verärgert gewesen.
Sie beteten ein Vaterunser und ein Ave-Maria. Dann sagte der Amerikaner, sie könnten wieder hinuntersteigen.
»War's das schon?« Paulo war enttäuscht.
»Ich wollte euch hierher bringen, damit mein Engel sieht, dass ich getan habe, was er mir befohlen hat«, antwortete Took. »Mehr kann ich euch nicht beibringen. Wenn ihr noch mehr wissen wollt, dann fragt die Walküren.«
Die Rückfahrt verlief unter bedrücktem Schweigen - das nur von den Anweisungen Tooks - »links, rechts« - unterbrochen wurde. Keiner wollte reden - Paulo, weil er fand, dass Took ihn hereingelegt habe; Chris, weil sie fürchtete, Paulo könnte wegen ihrer Bemerkungen verärgert sein und finden, sie würde alles kaputtmachen; und Took, weil er wusste, dass der Brasilianer enttäuscht war und deshalb nicht über J. und dessen Techniken sprechen würde.
»Du weißt, dass du dich in einem Punkt geirrt hast«, sagte Paulo, als sie beim Wohnwagen angelangt waren. »Wir haben gestern keinen Engel getroffen. Es war ein Typ mit einem Lastwagen.«
Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Chris, dass es auf diesen Satz keine Antwort geben würde - die Feindseligkeit zwischen den beiden wurde immer spürbarer. Der Amerikaner ging auf sein »Haus« zu, wandte sich dann aber plötzlich um.
»Ich werde dir eine Geschichte erzählen, die mein Vater mir erzählt hat«, sagte er. »Ein Meister und sein Schüler wanderten durch die Wüste, und der Meister lehrte ihn, dass sie immer auf Gott vertrauen könnten, denn Er werde sich um alles kümmern.
Als die Nacht hereinbrach, schlugen sie ein Lager auf.
Der Meister baute das Zelt auf, und der Schüler sollte die Pferde an einem Felsen festbinden. Doch als er beim Felsen ankam, dachte er sich:
>Der Meister will mich auf die Probe stellen. Er sagt, Gott würde sich um alles kümmern, und nun bittet er mich, die Pferde festzubinden. Er will sehen, ob ich Gott vertraue oder nicht. <
Und anstatt die Tiere festzubinden, sprach er ein langes Gebet und übertrug Gott die Wache.
Als sie am nächsten Tag aufwachten, waren die Pferde verschwunden. Enttäuscht beklagte sich der Schüler beim Meister und sagte ihm, er vertraue Gott nicht mehr, denn der kümmere sich nicht um alles, er hätte vergessen, auf die Pferde aufzupassen.
>Du irrst<, antwortete der Meister. »Gott hätte sich gern um die Pferde gekümmert, aber er brauchte in diesem Augenblick deine Hände, um sie festzubinden.«
Took zündete eine kleine Gaslampe an, die draußen am Wohnwagen hing. Das Licht überstrahlte den Glanz der Sterne in seiner Umgebung.
»Wenn wir beginnen, an unsere Engel zu denken, beginnen sie, sich zu offenbaren. Ihre Gegenwart wird immer deutlicher, lebendiger. Nur zeigen sie sich so, wie sie es schon immer getan haben, zuerst einmal durch andere Lebewesen.
Dein Engel hat diesen Mann benutzt. Er wird ihn früh aus dem Haus geschickt, irgendetwas in seiner täglichen Routine geändert, alles so eingerichtet haben, dass er genau in dem Augenblick, als ihr ihn brauchtet, zur Stelle war. Das war ein Wunder. Versuch nicht, daraus ein ganz gewöhnliches Ereignis zu machen!«
Paulo hörte schweigend zu.
»Als wir den Hügel hinaufsteigen wollten, habe ich die Taschenlampe vergessen«, fuhr Took fort. »Du wirst gemerkt haben, dass ich eine ganze Weile beim Auto geblieben bin. Immer wenn ich etwas vergesse, wenn ich aus dem Haus gehe, spüre ich, dass mein Schutzengel aktiv wird. Er bringt mich dazu, mich um ein paar Sekunden zu verspäten - und dieses bisschen Zeit kann etwas sehr Wichtiges bedeuten. Es kann mich vor einem Unfall schützen oder dazu führen, dass ich jemandem begegne, den ich brauche.
Darum setze ich mich immer kurz hin, nachdem ich das geholt habe, was ich vergessen hatte, und zähle bis zwanzig. So hat mein Engel Zeit zu handeln. Ein Engel benutzt viele Werkzeuge.«
Der Amerikaner bat Paulo, kurz zu warten. Er stieg in den Wohnwagen und kam mit einer Landkarte zurück.
»Ich habe die Walküren zuletzt hier gesehen.«
Er zeigte auf einen Punkt auf der Karte. Chris fiel auf, dass die Feindseligkeit zwischen den beiden nachgelassen hatte.
»Pass gut auf Chris auf!«, sagte Took. »Es ist gut, dass sie mitgekommen ist.«
»Das finde ich auch«, antwortete Paulo. »Vielen Dank für alles.«
Und sie verabschiedeten sich.
»Was war ich bloß für ein Esel!«, sagte Paulo, sobald sie sich etwas entfernt hatten, und hieb mit der Faust aufs Lenkrad. »Esel? Und ich dachte schon, du wärst eifersüchtig.«
Aber Paulo lachte gut gelaunt.
»Vier Wege! Und er hat nur drei erwähnt! Über den vierten Weg spricht man mit dem Engel!«
Er wandte sich an Chris. Seine Augen strahlten vor Freude.
»Der vierte Weg ist das Channeling!«
Fast zehn Tage in der Wüste. An einer bestimmten Stelle machten sie halt. Als hätten sich vor Urzeiten Dutzende Flüsse tief ins Erdreich hineingefressen, war dort der Boden von Schluchten, sogenannten arroyos, durchzogen, die von den Auswirkungen der Sonne allmählich verbreitert wurden.
Dort gab es weder Skorpione noch Schlangen, noch Koyoten, nicht einmal niedrigen Pflanzenbewuchs. In der Wüste gab es viele dieser sogenannten badlands.
Sie traten in eine dieser Schluchten und konnten zwischen meterhohen Erdwänden nur einen gewundenen, scheinbar endlosen Weg sehen.
Sie waren nicht mehr diese zwei leichtfertigen Abenteurer, die glaubten, ihnen könnte nichts Schlimmes geschehen. Die Wüste hatte ihre eigenen Gesetze und tötete diejenigen, die sie missachteten. Sie wussten nun, wann es draußen in der Wüste ungefährlich war, sie konnten die Spuren der Klapperschlangen erkennen, wussten, wann sie welche Sicherheitsmaßnahmen treffen mussten. Entsprechend hatten sie, bevor sie sich in die badlands begaben, einen Zettel hinter der Windschutzscheibe des Wagens zurückgelassen, auf dem stand, wohin sie gegangen waren. Auch wenn es nur für eine halbe Stunde war und es überflüssig, ja sogar lächerlich zu sein schien, könnte, wenn doch etwas passierte, jemand, der mit seinem Wagen anhielt, den Zettel lesen und wissen, in welche Richtung sie gegangen waren. Künftig mussten sie den Werkzeugen ihrer Schutzengel die Arbeit erleichtern.
Sie suchten nach den >Walküren<. Nicht dort, am Ende der Welt - denn nichts und niemand konnte lange in den bad-lands überleben. Sie waren jetzt nur wegen einer Übung hier. Für Chris.
Aber die >Walküren< waren irgendwo in der Nähe, dafür gab es Anhaltspunkte. Sie hinterließen Spuren. Sie lebten in der Wüste, sie blieben nie an einem Ort, aber sie hinterließen Spuren.
Paulo und Chris hatten einige Hinweise sammeln können. Anfangs waren sie von einem Ort zum anderen gefahren und hatten nach den >Walküren< gefragt, aber niemand hatte je von ihnen gehört. In dem Ort, den Took ihnen auf der Karte gezeigt hatte, waren sie offenbar längst nicht mehr. Dann, plötzlich, hatten sie eines Tages in einem Cafe einen jungen Mann getroffen, der sich daran erinnerte, etwas über sie gelesen zu haben. Und er hatte ihnen ihre Kleidung und die Spuren beschrieben, die sie hinterließen.
Paulo und Chris fragten seither nach Frauen, die solche Kleidung trugen. Und immer machten die Befragten verächtliche Gesichter und sagten, diese Frauen seien vor einem Monat, vor einer Woche, vor drei Tagen bereits durchgezogen.
Nun waren Paulo und Chris nur noch eine Tagesreise von dem Ort entfernt, an dem sich >die Walküren< möglicherweise aufhielten.
Die Sonne näherte sich bereits dem Horizont - sonst hätten sie sich nicht in die Wüste gewagt. Die Wände aus Erde warfen schon Schatten. Der Ort war perfekt. Chris hatte es satt, wieder und wieder dieselbe Übung zu machen. Aber es blieb ihr nichts anderes übrig. Denn sie hatte bisher keine großen Fortschritte gemacht.
»Setz dich hierhin! Mit dem Rücken nach Süden!«
Sie tat, was Paulo sagte. Und begann, sich plötzlich unwillkürlich zu entspannen. Sie saß im Schneidersitz, hielt die Augen geschlossen - aber sie konnte die ganze Wüste um sich herum wahrnehmen. Ihre Seele war in den vergangenen Tagen gewachsen, sie wusste nun, dass die Welt sehr viel mehr enthielt, als sie noch vor zwei Wochen geahnt hatte.
»Konzentriere dich auf dein >zweites Bewusstsein<!«, sagte Paulo.
Chris spürte eine gewisse Gehemmtheit in seiner Stimme. Er konnte sich ihr gegenüber nicht so wie bei seinen Schülern verhalten - schließlich kannte sie seine Fehler und Schwächen. Aber Paulo gab sich große Mühe, wie ein Meister zu handeln, und sie bewunderte ihn dafür.
Sie konzentrierte sich auf ihr >zweites Bewusstsein<. Sie ließ die Gedanken frei schweifen - und wie immer waren es absurde Gedanken für jemanden, der sich mitten in der Wüste aufhielt. Seit drei Tagen bemerkte sie, wenn sie mit der Übung begonnen hatte, dass sich ihr Denken unwillkürlich um die Frage drehte, wen sie in drei Wochen zu ihrem Geburtstag einladen sollte.
Paulo hatte sie gebeten, das nicht zu bewerten. Sie solle einfach ihre Gedanken frei fließen lassen.
»Wir fangen noch einmal von vorn an«, sagte er.
»Ich denke bloß noch an meine Party!«
»Kämpfe nicht gegen deine Gedanken an, sie sind stärker als du«, sagte Paulo zum tausendsten Mal. »Wenn du dich von ihnen befreien willst, akzeptiere sie! Denk, was dein >zweites Bewusstsein< dir aufgibt zu denken, irgendwann ist es erschöpft.«
Sie stellte in Gedanken eine Gästeliste auf. Strich einige Personen und setzte andere darauf. Das war der erste Schritt: dem >zweiten Bewusstsein<. Aufmerksamkeit zu schenken, bis es müde wurde.
Die Geburtstagsparty verschwand diesmal schon schneller aus ihrem Kopf. Dennoch stellte Chris immer wieder die Gästeliste auf. Es war unglaublich, wie diese Lappalie sie tagelang derart in Beschlag nehmen und stundenlang beschäftigen konnte, während sie doch an so viel interessantere Dinge hätte denken können.
»Denk darüber nach, bis du müde bist. Wenn du dann müde bist, öffne den Kanal.«
Paulo entfernte sich ein paar Schritte von seiner Frau und setzte sich, an die steile Felswand gelehnt, auf den Boden. Took war schon ein schlauer Kerl. Zwar hatte er das Gebot, den Schüler eines anderen Meisters nichts zu lehren, strikt eingehalten, Paulo aber durch Chris die Hinweise gegeben, die er brauchte.
Der vierte Weg, mit der unsichtbaren Welt zu kommunizieren, war das Channeling.
Channeling! Wie oft hatte er bei Staus Leute in den Wagen sitzen sehen, die Selbstgespräche führten, ohne zu merken, dass sie dabei waren, eine der raffiniertesten Methoden der Magie anzuwenden! Anders als der Mediumismus, der während des Kontakts mit den Geistern ein Ausschalten des Bewusstseins verlangte, war das Channeling die natürlichste Methode, um in das Unbekannte einzutauchen - um mit dem Heiligen Geist, mit der Weltenseele, mit den erleuchteten Meistern, die an fernen Orten des Universums wohnten, Kontakt aufzunehmen. Sie war tatsächlich sehr einfach.
Und alle Menschen überquerten diese Brücke, ohne es zu merken. Alle wundern sich, wenn sie etwas sagen, das sie vorher noch nicht einmal gedacht haben, und plötzlich Ratschläge geben und sich nicht erklären können, wie sie darauf gekommen sind.
Und alle betrachteten gerne die Wunder der Natur: ein Gewitter zum Beispiel oder einen Sonnenuntergang, bereit, mit der Universellen Weisheit in Kontakt zu treten, außer...
...außer wenn in diesen Augenblicken die unsichtbare Mauer auftauchte: das >zweite Bewusstsein<.
Das >zweite Bewusstsein<: Es versperrte mit seinen ständigen Wiederholungen, seinen Banalitäten, seinen Musikstücken, finanziellen Problemen den ungelösten Leidenschaften den Zugang.
Paulo stand auf und ging zu Chris hinüber.
»Hab Geduld, und höre alles an, was das >zweite Bewusstsein< dir zu sagen hat! Gib keine Antwort! Kämpf nicht dagegen an! Es wird schon müde werden.«
Chris stellte ein weiteres Mal die Gästeliste auf, obwohl sie das Interesse daran schon längst verloren hatte. Als sie fertig war, setzte sie einen Schlusspunkt darunter.
Und öffnete die Augen.
Da saß sie nun, in dieser Erdspalte und spürte die stickige Luft ringsum.
»Öffne den Kanal! Fang an zu sprechen!« Sprechen.
Sie hatte immer Angst gehabt, vor anderen zu sprechen. Angst davor, sich lächerlich zu machen. Angst vor dem, was die anderen über sie denken könnten, die immer den Eindruck machten, besser vorbereitet, intelligenter zu sein, und immer auf alles eine Antwort hatten.
Doch jetzt war sie hier und musste all ihren Mut zusammennehmen und sprechen, auch wenn dabei nur unzusammenhängender Unsinn herauskam. Paulo hatte ihr erklärt, dass Sprechen eine Form des Channeling sei. Dadurch könne sie das >zweite Bewusstsein< überwinden und so erreichen, dass das Universum sie leitete und nach Gutdünken benutzte.
Sie begann, den Kopf zu bewegen, einfach nur, weil sie Lust hatte, es zu tun, und plötzlich hatte sie das Bedürfnis, mit dem Mund seltsame Geräusche zu machen. Sie tat es. Nichts daran war lächerlich. Sie war frei zu tun, was sie wollte.
Sie wusste nicht, woher das alles kam - und dennoch kam es von innen, aus der Tiefe ihrer Seele und offenbarte sich. Hin und wieder funkte das >zweite Bewusstsein< mit seinen fixen Ideen dazwischen. Aber genau so musste es sein - ohne Logik, ohne Zensur, mit dem Herzen eines »Kriegers des Lichts« musste sie freudig in eine unbekannte Welt eintreten. Sie musste die reine Sprache des Herzens erlernen.
Paulo hörte schweigend zu, und Chris spürte seine Gegenwart. Sie war bei vollem Bewusstsein, aber frei. Sie brauchte sich keine Gedanken darüber zu machen, was er dachte - sie musste weitersprechen, die Gesten machen, zu denen sie Lust hatte, seltsame Lieder singen. Ja, alles hatte bestimmt einen Sinn, auch wenn sie diese Geräusche, diese Lieder noch nie gehört, diese Bewegungen noch nie gemacht hatte. Es war nicht einfach, denn sie hatte ständig Angst, sie bilde sich alles nur ein, weil sie so sehr den Kontakt mit dem Unbekannten wollte. Aber sie überwand die Angst, lächerlich zu wirken, und machte weiter.
Heute war es anders. Sie machte die Dinge nicht mehr wie in den ersten Tagen, weil sie sie tun sollte. Jetzt gefiel es ihr. Und sie begann, sich sicherer zu fühlen. Das Gefühl von Sicherheit kam und ging in Wellen, und Chris versuchte verzweifelt, es festzuhalten.
Um das Gefühl festhalten zu können, musste sie sprechen. Sagen, was immer ihr in den Sinn kam.
»Ich sehe diese Erde«, sagte sie mit stockender, aber ruhiger Stimme, obwohl das >zweite Bewusstsein< sich immer wieder meldete und ihr einflüsterte, Paulo fände sie lächerlich. »Wir befinden uns an einem sicheren Ort, können hier nachts bleiben, auf dem Boden liegen und die Sterne betrachten und über Engel reden. Es gibt weder Skorpione noch Schlangen, noch Koyoten.«
(Ob er wohl glaubt, ich erfinde das alles, um ihn zu beeindrucken? Aber egal, ich will das jetzt einfach sagen!)
»Der Planet hat bestimmte Orte nur sich selber vorbehalten. Wenn wir an einen solchen Ort kommen, bittet er uns, wieder zu gehen. An solchen Orten kann der Planet Erde allein sein, ohne dass Millionen von Lebensformen auf seiner Oberfläche wandeln. Auch er braucht das Alleinsein, denn er versucht, sich selber zu verstehen.«
(Warum sage ich das? Er wird mich für eine Angeberin halten. Ich bin bei Bewusstsein!)
Paulo blickte sich um. Das trockene Flussbett wirkte freundlich, sanft. Aber es flößte einem auch Angst ein, Angst vor der vollkommenen Einsamkeit, dem vollkommenen Fehlen von Leben.
»Ein Gebet«, stammelte Chris. Das >zweite Bewusstsein< schaffte es jetzt nicht mehr, dass sie sich lächerlich fühlte.
Aber plötzlich hatte sie Angst. Angst, das Gebet nicht zu kennen, nicht weiterzuwissen.
Und als sie Angst hatte, kam das >zweite Bewusstsein< zurück und mit ihm die Lächerlichkeit, die Scham, die Sorge wegen Paulo. Schließlich war er der Hexer - er wusste mehr als sie und hielt ihr Gebrabbel vermutlich für Hokuspokus.
Sie atmete tief durch. Konzentrierte sich auf die Gegenwart, auf die Erde, auf der nichts wuchs, und auf die Sonne, die sich bereits verbarg. Ganz allmählich kehrte das Gefühl von Sicherheit zurück - wie ein Wunder.
»Ein Gebet!«, wiederholte sie.
Und ein Echo wird deutlich am Himmel erklingen
wenn ich komme und lärme,
Sie schwieg eine Weile, spürte, dass sie leer und dass das Channeling beendet war. Dann wandte sie sich Paulo zu.
»Ich bin heute zu weit gegangen. So ist es noch nie gewesen.«
Paulo strich ihr übers Haar und küsste sie. Sie wusste nicht, ob er es aus Mitleid tat oder weil er stolz auf sie war.
»Lass uns gehen«, sagte er. »Lass uns den Wunsch der Erde achten.«
(Vielleicht sagt er das ja nur, um mir Mut zu machen, mich weiter im Channeling zu üben<, dachte sie. Aber sie hatte keinen Zweifel - etwas war geschehen. Sie hatte das alles nicht erfunden.)
»Das Gebet?«, fragte sie und fürchtete sich vor der Antwort.
»Das ist ein alter indianischer Gesang. Von den Medizinmännern der Chippewa.«
Sie war immer stolz auf die Bildung ihres Mannes gewesen, obwohl er immer sagte, sie sei zu nichts nütze.
»Wie kann so etwas geschehen?«
Paulo erinnerte sich daran, wie der Alchimist in seinem Buch über die Geheimnisse der Alchimie gesprochen hatte: »Die Wolken sind Flüsse, die das Meer schon kennengelernt haben.« Aber er hatte keine Lust, es zu erklären. Er war angespannt, verärgert, wusste nicht genau, was er noch in der Wüste machte. Schließlich wusste er ja, wie er mit seinem Schutzengel sprechen konnte.
Hast du den Film Psycho gesehen?«, fragte er Chris, als sie beim Wagen ankamen. Sie nickte.
»Im Film stirbt die Hauptdarstellerin schon nach fünfundvierzig Minuten unter der Dusche. In der Wüste habe ich am dritten Tag herausgefunden, wie man mit den Engeln spricht. Aber ich habe mir selber das Versprechen gegeben, vierzig Tage hierzubleiben, und kann es mir jetzt nicht einfach anders überlegen.«
»Aber da sind doch die Walküren!«
»Die Walküren! Ich kann ohne sie auskommen, verstehst du?«
(>Er hat Angst, sie nicht zu finden<, dachte Chris.)
»Ich weiß, wie man mit den Engeln spricht, das ist entscheidend!« Paulos Tonfall war aggressiv.
»Darüber dachte ich gerade nach«, entgegnete Chris. »Du weißt es, aber du willst es nicht versuchen.«
>Das ist mein Problem<, sagte sich Paulo, während er den Wagen startete. >Ich brauche starke Gefühle. Brauche Herausforderungen.<
Er schaute Chris an. Sie las zerstreut im Handbuch Überleben in der Wüste, das sie in einem der Orte gekauft hatten, durch die sie gekommen waren.
Er ließ den Wagen an. Dann fuhren sie wieder über eine dieser langen, geraden Straßen, die kein Ende zu haben schienen.
>Das ist nicht nur ein Problem der spirituellen Suche<, ging er weiter seinen Gedanken nach, während er abwechselnd auf Chris und auf die Straße schaute. Er hatte die Ehe satt, obwohl er wusste, dass er seine Frau liebte. Er brauchte starke Gefühle in der Liebe, bei der Arbeit, bei fast allem, was er in seinem Leben tat. Damit verstieß er gegen eines der wichtigsten Naturgesetze: Jede Bewegung braucht auch Unterbrechungen.
Er wusste, dass in seinem Leben nichts lange halten würde, wenn er so weitermachte. Er begann zu begreifen, was J. damit sagen wollte, als er meinte: »Wir zerstören, was wir am meisten lieben.«
Zwei Tage später kamen sie nach Gringo Pass, einen Ort, der nur aus einem Motel, einem kleinen Supermarkt und dem Zollgebäude bestand. Die Grenze zu Mexiko lag nur wenige Meter entfernt, und beide machten ein paar Fotos, auf denen sie breitbeinig mit einem Fuß in jedem Land standen.
Sie betraten den kleinen Supermarkt und fragten nach den Walküren. Die Besitzerin der dazugehörenden Snack-Bar sagte, sie habe »diese Lesben« am Morgen gesehen, sie seien aber schon weitergezogen.
»Nach Mexiko?«, erkundigte sich Paulo.
»Nein, nein. Sie sind auf der Straße in Richtung Tucson unterwegs.«
Paulo und Chris kehrten ins Motel zurück und setzten sich auf die Veranda. Den Wagen hatten sie direkt davor geparkt.
»Schau nur, wie staubig der Wagen ist«, sagte Paulo nach ein paar Minuten. »Ich möchte ihn waschen.«
»Der Besitzer des Motels wird es nicht gern sehen, wenn wir sein Wasser dafür verschwenden. Wir sind in der Wüste, falls du es vergessen hast.«
Paulo sagte nichts. Er stand auf, holte die Schachtel mit den Papiertaschentüchern aus dem Handschuhfach und fing an, den Wagen abzuwischen. Chris blieb auf der Veranda sitzen.
>Er ist aufgeregt. Er kann nicht stillsitzen<, dachte sie.
»Ich muss dir etwas Wichtiges sagen«, begann sie.
»Du hast deine Arbeit gut gemacht, keine Angst«, antwortete er, während er ein Papiertaschentuch nach dem anderen verbrauchte.
»Und genau darüber möchte ich mit dir reden«, ließ Chris nicht locker. »Ich bin nicht hierher gekommen, um eine Arbeit zu machen. Ich bin hierher gekommen, weil ich das Gefühl hatte, dass unsere Ehe dabei ist zu zerbrechen.«
>Sie spürt es also auch<, dachte er, konzentrierte sich aber weiter auf seine Aufgabe.
»Ich habe deine spirituelle Suche immer respektiert, aber ich habe auch meine eigene«, sagte Chris. »Und ich werde meine Suche weiter betreiben, ich möchte, dass das ganz klar ist. Ich werde weiter zur Kirche gehen.«
»Ich gehe auch in die Kirche.«
»Aber das hier ist anders, und das weißt du auch. Du hast diesen Weg gewählt, um mit Gott zu kommunizieren, ich einen anderen.«
»Das will ich auch nicht ändern.«
»Aber«, und sie holte tief Luft, weil sie nicht wusste, wie seine Antwort ausfallen würde, »etwas geschieht mit mir. Ich möchte auch mit meinem Engel sprechen.«
Sie stand auf und ging zu ihm. Sie sammelte die auf dem Boden verstreuten Papiertaschentücher eines nach dem anderen auf.
»Tu mir einen Gefallen!«, sagte sie und blickte ihrem Mann tief in die Augen. »Verlass mich nicht auf halbem Wege!«
An der Tankstelle gab es hinten auch eine Snack-Bar. Sie setzten sich ans Fenster. Sie waren kurz vorher aufgewacht, und die Welt war noch ganz still. Draußen lagen die Ebene, die unendliche gerade Asphaltstraße und die Stille.
Chris sehnte sich nach Borrego Springs, nach Gringo Pass und nach Indio Pass. Dort hatte die Wüste ein Gesicht, Berge, Täler, und es gab Geschichten von Pionieren und Konquistadoren.
Hier sah man nur eine unendliche Leere. Und die Sonne. Die Sonne würde bald alles in Gelb tauchen, die Temperatur auf 55 Grad im Schatten ansteigen lassen (wobei es gar keinen Schatten gab) und das Leben für Mensch und Tier unmöglich machen.
Ein junger Mann kam zu ihnen an den Tisch. Er sah aus wie ein Chinese und sprach mit Akzent - sicher war er noch nicht lange hier. Chris stellte sich vor, was wohl alles geschehen sein mochte, um diesen Chinesen in eine Snack-Bar mitten in der Wüste zu bringen.
Sie bestellten Kaffee, Eier, Speck und Toast. Und schwiegen weiter.
Chris fiel der Blick des jungen Mannes auf - er war fest auf den Horizont gerichtet und wirkte wie der Blick eines Menschen, dessen Seele gewachsen war.
Aber nein, er machte keine heilige Übung und versuchte auch nicht, sich spirituell weiterzuentwickeln. Aus seinem Blick sprach Langeweile. Der junge Mann sah überhaupt nichts - weder die Wüste noch die Straße, noch die beiden Kunden, die so früh am Morgen aufgetaucht waren. Er beschränkte sich darauf, das zu tun, was man ihm beigebracht hatte - Kaffee in die Maschine füllen, die Eier braten, »Womit kann ich dienen?« oder »danke« sagen, als wäre er ein gezähmtes Tier ohne Gefühle oder eigene Reflexe. Der Sinn seines Lebens schien in China zurückgeblieben zu sein oder war in der unendlichen, bäum- und felsenlosen Ebene verschwunden.
Der Kaffee kam. Sie tranken ihn gemächlich. Sie hatten nichts weiter vor.
Paulo schaute auf den draußen geparkten Wagen, der, obschon er ihn doch vor wenigen Tagen erst abgewischt hatte, wieder ganz staubig war.
Sie hörten ein Geräusch in der Ferne. Bald würde der erste Lastwagen des Tages vorbeikommen. Der junge Mann würde sich aus seiner Erstarrung lösen, Eier und Speck vergessen und hinausschauen, versuchen, etwas zu erkennen, weil er sich wünschte, Teil einer Welt zu sein, die sich bewegte, einer Welt, die an der Snack-Bar vorbeirauschte. Er konnte nur aus der Ferne die Welt vorbeirauschen sehen, das war alles. Wahrscheinlich träumte er nicht einmal mehr davon, alles stehen- und liegenzulassen und per Anhalter mit einem dieser Laster wegzufahren. Er war süchtig nach Stille und Leere.
Das Geräusch schwoll an, klang aber nicht so wie der Motor eines Lastwagens. So etwas wie Hoffnung keimte in Paulo auf, nur ein wenig, und er versuchte, ihr keine Beachtung zu schenken.
Das Geräusch wurde zu Lärm. Chris wandte den Kopf, um zu sehen, was draußen los war.
Paulo starrte in seinen Kaffee. Chris sollte seine Anspannung nicht merken.
Der Lärm ließ die Scheiben der Snack-Bar erzittern. Der junge Mann sah ungerührt vor sich hin - er kannte diesen Lärm und mochte ihn nicht.
Aber Chris schaute fasziniert hinaus. Funkeln erfüllte den Horizont, Licht glitzerte auf Metall - und ihr war so, als würde der Lärm das Gras, den Asphalt, die Decke, die Snack-Bar, die Fensterscheiben durchrütteln.
Donnernd galoppierten rund ein Dutzend Pferde auf die Tankstelle zu, und die gerade Straße, die ebene Wüste, das niedrige Gras, der junge Chinese, die beiden Brasilianer, die einen Engel suchten, alle schauten ihnen gebannt entgegen.
Die schönen Pferde drehten gefährlich nahe beieinander eine Runde nach der anderen um die Tankstelle herum. Peitschen knallten, behandschuhte Hände führten geschickt die Zügel. Als gälte es, die ganze Wüste zu wecken und mit Lebensfreude anzustecken, stießen die Reiterinnen gellende Schreie aus wie Cowboys, die ihr Vieh vor sich hertrieben. Paulo hatte hochgeblickt und schaute fasziniert zu, aber er hatte Angst. Womöglich geschah das alles nur, um den jungen Chinesen aufzurütteln und ihn daran zu erinnern, dass es mehr gab als nur diese öde Tankstelle und die Snack-Bar, in der fast nichts los war.
Unvermittelt, wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, blieben die Pferde stehen.
Die Walküren stiegen ab, klopften den Staub von ihrer Lederkluft, nahmen die bunten Tücher ab, die sie zum Schutz über Mund und Nase gebunden hatten, und banden sie sich um den Hals. Dann betraten sie die Snack-Bar. Acht Frauen.
Sie bestellten nichts. Der Chinese schien auch so zu wissen, was sie wollten - er legte bereits Speck, Toast und Eier auf das heiße Blech. Trotz der plötzlichen Unruhe arbeitete er weiter wie eine gehorsame Maschine.
»Warum ist das Radio aus?«, fragte eine der Reiterinnen.
Sofort stellte der Chinese das Radio an.
»Stell es lauter!«, forderte eine andere Frau.
Wie ferngesteuert drehte der Chinese das Radio auf volle Lautstärke. Die einsame Tankstelle hatte sich unvermittelt in eine New Yorker Disco verwandelt. Ein paar Frauen klatschten im Rhythmus mit, andere versuchten, sich in dem Lärm schreiend zu unterhalten.
Chris, die alles gebannt beobachtete, entdeckte plötzlich, dass eine der Reiterinnen vollkommen still dasaß - sie hatte lange rote Locken und war offensichtlich die Älteste. Sie nahm nicht an der Unterhaltung teil und zeigte auch kein Interesse an dem Frühstück, das gerade zubereitet wurde.
Stattdessen starrte sie unverwandt zu Paulo hinüber. Und Paulo, der das Kinn in die rechte Hand gestützt hatte, erwiderte ihren Blick.
Chris versetzte es einen Stich ins Herz. Etwas Seltsames, sehr Seltsames spielte sich da ab - wieso, konnte sie sich nicht erklären. Vielleicht hatte die Tatsache, dass sie in den vergangenen Tagen zum Horizont geschaut oder ständig das Channeling geübt hatte, dazu geführt, dass sie die Dinge rings um sie herum anders wahrnahm. Sie hatte Vorahnungen gehabt. Jetzt wurden sie wahr.
Sie tat so, als bemerke sie nicht, dass die beiden einander ansahen. Aber ihr Herz schickte ihr eigenartige Signale - und sie wusste nicht, ob es gute oder schlechte waren.
>Took hatte recht<, dachte Paulo. >Er sagte, es sei ganz einfach, Kontakt zu ihnen aufzunehmen.<
Allmählich bemerkten die anderen Frauen, was sich abspielte. Sie folgten dem Blick der Frau mit den roten Locken zu dem Tisch, an dem Paulo und Chris saßen. Ihre Unterhaltung verstummte, und sie bewegten sich auch nicht mehr im Takt der Musik.
»Mach das Radio aus!«, befahl die Frau mit den roten Locken dem Chinesen.
Er gehorchte. Jetzt war das einzige Geräusch das Brutzeln des Specks auf dem Blech.
Die Rothaarige stand auf und ging quer durch den Raum bis zu dem Tisch, an dem Chris und Paulo saßen. Dort blieb sie stehen. Die anderen beobachteten weiterhin die Szene.
»Woher hast du diesen Ring?«, fragte sie Paulo unvermittelt.
»Aus demselben Laden, in dem du deine Anstecknadel gekauft hast«, antwortete er.
Erst da sah Chris die Metallbrosche an der Lederjacke der Frau. Darauf war das gleiche Symbol wie auf dem Ring, den Paulo am linken Ringfinger trug.
>Ach, deshalb hatte er seine Hand unterm Kinn!<
Sie hatte bereits viele Ringe der Mondtradition gesehen - in allen Farben, aus allen erdenklichen Materialien und in allen Größen - immer in Form einer Schlange, dem Symbol für Weisheit.
Aber so einen Ring, wie ihr Mann ihn am Finger trug, hatte sie außer bei ihm noch nie gesehen. J. hatte ihn ihm 1982, als sie zu dritt in Norwegen gewesen waren, mit den Worten gegeben, dass er so »die Mondtradition vollendete, einen von der Angst unterbrochenen Zyklus«.
Und jetzt, mitten in der Wüste - eine Frau mit der Anstecknadel. Dasselbe Design.
>Frauen achten immer auf Schmuckstücke.<
»Was willst du?«, fragte die Rothaarige.
Paulo stand auf. Er und die Rothaarige standen einander jetzt gegenüber und sahen einander an. Chris' Herz zog sich noch mehr zusammen - nicht aus Eifersucht, da war sie sich sicher.
»Was willst du?«, fragte die Rothaarige noch einmal.
»Mit meinem Engel sprechen. Und noch etwas anderes.«
Die Frau nahm Paulos Hand. Fuhr mit den Fingern über den Ring, und zum ersten Mal hatte diese Frau etwas Weibliches.
»Wenn du den Ring im selben Laden gekauft hast wie ich, dann wirst du wissen, wie man das macht«, sagte sie, während sie auf die Schlangen starrte. »Wenn nicht, dann verkauf ihn mir! Es ist ein schönes Schmuckstück.«
Das war kein Schmuckstück. Es war nur ein einfach gearbeiteter silberner Ring mit zwei ineinander verschlungenen Schlangen. Jede der Schlangen hatte zwei Köpfe.
Paulo antwortete nicht.
»Du kannst nicht mit den Engeln sprechen, wenn dieser Ring dir nicht gehört«, sagte die Frau nach einer Weile. »Ich weiß. Channeling.«
»Genau«, entgegnete die Frau. »Sonst nichts.«
»Ich sagte, ich wolle noch etwas anderes.«
»Was denn?«
»Took hat seinen Engel gesehen. Ich will meinen sehen. Mit ihm reden, von Angesicht zu Angesicht.«
»Took?«
Der Blick der Rothaarigen ging in die Vergangenheit, versuchte, sich zu erinnern, wer Took war, wo er lebte.
»Ja, jetzt erinnere ich mich«, sagte sie. »Er lebt in der Wüste. Eben gerade, weil er seinen Engel gesehen hat.«
»Nein. Er lernt, um ein Meister zu werden.«
»Diese Vorstellung, einen Engel sehen zu müssen, ist nichts als ein Märchen. Es reicht, mit ihm zu sprechen.«
Paulo machte einen Schritt auf die Walküre zu.
Chris kannte diesen Trick ihres Mannes: Er hieß >Destabilisierung<. Normalerweise sprechen Menschen miteinander, indem sie eine Armlänge Abstand voneinander halten. Wenn einer dem anderen zu nahe kommt, wird das Denken des anderen durcheinander gebracht, ohne dass er weiß, wieso.
»Ich will meinen Engel sehen!« Paulo stand nun direkt vor der Frau und starrte sie an.
»Wozu?« Die Walküre schien eingeschüchtert zu sein. Der Trick funktionierte.
»Weil ich verzweifelt bin und Hilfe brauche. Ich habe Dinge erreicht, die wichtig für mich waren, und ich werde sie zerstören, weil ich mir sage, dass sie ihren Sinn verloren haben. Ich weiß, dass es nicht stimmt, ich weiß, dass sie weiterhin wichtig sind und dass ich, wenn ich sie zerstöre, mich selber zerstöre.«
Er sprach im gleichen unbeteiligten Tonfall weiter.
»Als ich herausgefunden habe, dass Channeling reicht, um mit meinem Engel zu sprechen, habe ich das Interesse daran verloren. Es war keine Herausforderung mehr, bloß noch etwas, das ich bereits gut kannte. Und da merkte ich, dass mein Weg in der Magie kurz vor seinem Ende steht. Das Unbekannte wurde mir allmählich zu vertraut.«
Chris war verblüfft über dieses Geständnis, das Paulo da vor wildfremden Menschen abgab.
»Um diesen Weg weiterzugehen, brauche ich etwas Größeres«, schloss er. »Ich brauche immer höhere Berge.«
Die Frau schwieg, überrascht von den Worten des Fremden.
»Wenn ich dir beibringe, einen Engel zu sehen, wird dein Wunsch, immer höhere Berge zu suchen, vielleicht vergehen«, sagte sie schließlich. »Aber das ist nicht immer gut.«
»Nein, dieser Wunsch wird nie vergehen. Was vergehen wird, ist diese Vorstellung, dass die erklommenen Berge zu niedrig sind. Ich werde meine Liebe für das, was ich errungen habe, am Lodern halten. Das war es, was mein Meister mir zu sagen versuchte.«
>Vielleicht spricht er auch über unsere Ehe<, dachte Chris.
Die Frau reichte Paulo die Hand.
»Mein Name ist M.«, sagte sie.
»Mein Name ist S.«, sagte Paulo.
Chris erschrak. Paulo hatte ihr seinen Namen als Magier genannt. Nur sehr wenige Menschen kannten dieses Geheimnis, denn die einzige Möglichkeit, einem Magier Schaden zuzufügen, besteht darin, seinen Magiernamen zu benutzen. Deshalb durfte ihn nur jemand vollkommen Vertrauenswürdiges erfahren.
Paulo war dieser Frau gerade erst begegnet. Er konnte ihr doch nicht dermaßen vertrauen.
»Du kannst mich Vahalla nennen«, sagte die Rothaarige.
>Das erinnert an den Namen des altnordischen Paradieses<, dachte Paulo, während er ihr auch seinen Taufnamen sagte.
Die Rothaarige schien sich etwas zu entspannen. Zum ersten Mal sah sie Chris an, die mit am Tisch saß.
»Um einen Engel zu sehen, braucht es drei Dinge«, fuhr Vahalla fort, indem sie sich wieder an Paulo wandte, als gäbe es Chris überhaupt nicht. »Und außer diesen drei Dingen braucht es Mut. Den Mut einer Frau, den wahren Mut. Nicht den Mut eines Mannes.«
Paulo tat so, als hätte er den letzten Satz nicht gehört.
»Morgen werden wir in Tucson sein«, sagte Vahalla. »Triff uns mittags, wenn dein Ring echt ist.«
Paulo ging zum Wagen, holte die Karte, und Vahalla zeigte ihm den genauen Treffpunkt. Der Chinese stellte Eier, Speck und Toast auf den Tisch, und eine der Walküren ermunterte Vahalla zu essen, das Frühstück werde sonst kalt. Daraufhin kehrte die Rothaarige an ihren Platz am Tresen zurück und bat den Chinesen, das Radio wieder anzustellen.
»Welches sind die drei Voraussetzungen, um mit dem Engel zu sprechen?«, fragte Paulo noch.
»Einen Pakt brechen. Eine Vergebung annehmen. Und eine Wette eingehen«, antwortete Vahalla.
Sie schauten hinunter auf die Stadt. Zum ersten Mal in fast drei Wochen waren sie in einem richtigen Hotel untergebracht - mit Zimmerservice, Bar und Frühstück im Bett.
Es war sechs Uhr abends - normalerweise übte Paulo sich um diese Zeit im Channeling, doch jetzt schlief er tief und fest.
Chris wusste, dass die Begegnung am Morgen in der Tankstelle alles verändert hatte. Wenn sie mit ihrem eigenen Engel sprechen wollte, war sie jetzt ganz auf sich gestellt.
Auf der Fahrt nach Tucson hatten sie kaum miteinander gesprochen. Sie hatte Paulo nur gefragt, warum er seinen Magiernamen genannt habe. Und er hatte gesagt, Vahalla habe ihren genannt, und als Zeichen seines Mutes und seines Vertrauens habe er ihr seinen genannt - er habe doch nicht hinter ihr zurückstehen können.
Möglicherweise sagte er die Wahrheit. Möglicherweise würde er heute Abend wieder mit ihr sprechen.
Sie war eine Frau, sie nahm Dinge wahr, die Männer nicht wahrnahmen.
Sie ging hinunter zur Rezeption und fragte nach einer Buchhandlung in der Nähe. Es gab keine. Man musste mit dem Wagen zu einem Shopping-Center fahren.
Sie zögerte ein paar Minuten. Dann ging sie wieder aufs Zimmer und nahm den Autoschlüssel. Sie waren in einer großen Stadt. Wenn Paulo aufwachte, würde er denken, was alle Männer über Frauen denken: dass sie shoppen gegangen sei.
Sie verirrte sich ein paarmal, fand aber schließlich ein riesiges Shopping-Center (oder eine Mall, wie man in Amerika sagte). In einem der Läden ließ sie einen Zweitschlüssel für den Wagen anfertigen.
Sie wollte auch einen Schlüssel haben. Nur aus Sicherheitsgründen.
Dann suchte sie nach einer Buchhandlung. Beim Stöbern fand sie bald, was sie suchte:
walküren: Geisterwesen aus dem Gefolge Wotans.
Sie hatte keine Ahnung, wer Wotan war. Aber das war unwichtig.
Botinnen der Götter, geleiten die Helden zum Tode - und anschließend ins Paradies.
Botinnen. Wie die Engel. Tod und Paradies. Auch wie die Engel.
Sie geben den Kämpfenden Kraft durch die Liebe, die ihr Zauber in deren Herzen auslöst. Sie treiben sie an durch das Beispiel ihrer Kühnheit an der vordersten Front der Schlacht, wo sie unter ohrenbetäubendem Lärm schnell wie die Wolken auf ihren Pferden dahinreiten.
Sie hätten keinen besseren Namen auswählen können.
Sie symbolisieren zugleich den Rausch, den Mut auslösen kann, die Zeit des Kraftschöpfens für den Krieger, das Abenteuer der kämpferischen Liebe, Begegnung und Verlust.
Ja, Paulo würde ganz bestimmt mit ihr reden wollen.
Zum Abendessen gingen sie hinunter ins Restaurant des Hotels - obwohl Paulo darauf drängte, sich in der großen, mitten in die Wüste gepflanzten Stadt umzusehen. Aber Chris sagte, sie sei müde, sie wolle früh ins Bett gehen und den Komfort genießen.
Sie redeten das ganze Abendessen lang über Belangloses. Paulo war übertrieben freundlich - sie kannte ihren Mann, wusste, dass er den richtigen Moment abpasste. Also hörte sie allem genau zu und zeigte Neugier, als er erzählte, dass es in Tucson das größte Wüstenmuseum der Welt gebe.
Er freute sich über ihr Interesse. Begeistert erzählte er, dass man dort gefahrlos lebende Koyoten, Schlangen und Skorpione sehen könne und das Museum seriöses Informationsmaterial bereithalte. Und auch, dass man dort den ganzen Tag verbringen könne.
Chris sagte, sie habe große Lust, es zu besuchen. »Dann schau es dir morgen an!«, schlug Paulo vor. »Aber Vahalla hat doch gesagt, wir treffen uns um zwölf.«
»Du brauchst nicht mitzukommen.«
»Eine merkwürdige Uhrzeit für ein Treffen«, entgegnete sie. »Kein Mensch geht um zwölf Uhr mittags lange in der Wüste herum. Wir haben das auf die schlimmste Weise lernen müssen.«
Paulo hatte das auch merkwürdig gefunden. Aber er wollte die Gelegenheit nicht verpassen. Er befürchtete, Vahalla könnte trotz des Rings ihre Meinung ändern.
Er hatte das Thema gewechselt, und Chris konnte die Anspannung ihres Mannes spüren. Sie redeten noch eine Weile über Belangloses, tranken eine ganze Flasche Wein aus und wurden schnell müde. Paulo schlug vor, gleich aufs Zimmer zu gehen.
»Ich weiß nicht, ob du morgen mitkommen solltest«, sagte er beiläufig.
Sie hatte an diesem Tag bereits alles erlebt und genossen, was ihr wichtig war - den Ort, Paulos Anspannung, das Essen. Zu ihrer Freude merkte sie, wie gut sie den Mann an ihrer Seite kannte. Aber jetzt war es schon spät, es war Zeit, ein klares Wort zu sprechen.
»Ich komme mit. Auf jeden Fall.«
Er war verärgert. Er sagte, sie sei bloß eifersüchtig und würde den Fortgang seiner Suche behindern. »Eifersüchtig auf wen?«
»Auf die Walküren. Auf Vahalla.«
»So ein Unsinn!«
»Aber das hier ist meine Suche. Ich bin mit dir hierher gekommen, weil ich dich bei mir haben wollte, aber es gibt bestimmte Dinge, die ich allein tun muss.«
»Ich will aber mitkommen«, sagte sie.
»Magie hat in deinem Leben doch nie eine Rolle gespielt. Wieso dann ausgerechnet jetzt?«
»Weil ich jetzt meine Suche begonnen habe. Und ich habe dich gebeten, mich nicht auf halbem Wege zu verlassen«, antwortete sie und beendete damit das Gespräch.
Vollkommene Stille. Chris ertrug Vahallas Blick nun schon eine ganze Weile.
Alle, auch Paulo, trugen Sonnenbrillen.
Alle - außer Vahalla und Chris. Chris hatte die Brille abgenommen, damit die Walküre sehen konnte, dass sie ihr in die Augen blickte.
Minuten vergingen, und niemand sagte etwas. Das einzige Wort, das bisher gefallen war, war Paulos »Hallo« gewesen, als sie am Treffpunkt ankamen. Der Gruß wurde nicht erwidert. Vahalla war auf Chris zugekommen und dicht vor ihr stehen geblieben.
Und seither war nichts weiter passiert.
>Zwanzig Minuten stehen wir nun schon so<, schätzte Chris. Die Sonne, die Hitze und die Stille brachten sie ganz durcheinander.
Sie versuchte, sich etwas abzulenken. Sie befanden sich am Fuß eines Berges! Hinter Vahalla war eine riesige, in den Fels gebaute Tür. Chris stellte sich vor, wohin diese Tür führen könnte, und bemerkte, dass sie schon nicht mehr richtig denken konnte. Genau so wie an dem Tag, an dem sie vom Salzsee zurückgekommen waren.
Die anderen Walküren, die nicht von ihren Pferden abgestiegen waren, bildeten einen Halbkreis um sie herum. Sie hatten ihre Tücher wie Zigeuner oder Piraten um den Kopf gebunden. Vahalla war die Einzige, deren Kopf unbedeckt war - sie trug ihr Tuch um den Hals. Ihr schien die Sonne nichts auszumachen.
Keiner schwitzte, und die Luft war so trocken, dass jede Flüssigkeit sofort verdunstete, wie Took gesagt hatte. Chris wusste, dass sie schnell dehydrierte.
Obwohl sie so viel Wasser getrunken hatte, wie sie konnte, obwohl sie auf die Wüste am Mittag vorbereitet war. Obwohl sie diesmal nicht nackt war.
>Aber sie zieht mich mit den Blicken aus<, dachte sie. >Nicht wie die Männer auf der Straße, sondern auf die grausame Art, wie Frauen es tun, wenn.. .<
Sie konnte nicht ewig hier stehen bleiben. Sie wusste nicht, wie lange das alles noch dauern, nur dass sie bald einen Sonnenstich haben würde. Alle verharrten reglos - und zwar nur ihretwegen, weil sie unbedingt hatte mitkommen und die Walküren wiedersehen wollen - Götterbotinnen, die die Helden in den Tod und ins Paradies geleiteten.
Chris hatte eine Dummheit begangen, doch jetzt war es zu spät. Sie war mitgekommen, weil ihr Engel es befohlen hatte. Er hatte gesagt, Paulo werde sie an diesem Nachmittag brauchen.
>Nein es war keine Dummheit. Der Engel hat darauf bestanden, dass ich mitkomme<, beruhigte sie sich.
Ihr Engel - sie redete mit ihm! Niemand wusste es - auch Paulo nicht.
Sie fühlte sich schwindlig und dachte, sie würde sicher gleich ohnmächtig werden. Aber sie würde nicht klein beigeben - jetzt ging es nicht mehr darum, an der Seite ihres Mannes zu sein oder dem Engel zu gehorchen. Jetzt ging es um den Stolz einer Frau, die sich mit einer anderen Frau maß.
»Setz deine Brille wieder auf!«, sagte Vahalla. »Dieses Licht kann blind machen.«
»Du hast auch keine auf«, entgegnete Chris. »Und hast keine Angst davor.«
Vahalla machte ein Zeichen. Und plötzlich schien sich die Sonne zu verzehnfachen. Die Walküren richteten es so ein, dass die Sonne auf dem Zaumzeug reflektierte, und lenkten die Strahlen auf Chris' Gesicht. Diese sah einen gleißenden Halbkreis. Sie kniff die Augen zusammen, hielt aber den Blick weiter auf Vahalla gerichtet.
Sie konnte sie jedoch kaum erkennen. Vahalla schien zu wachsen, und Chris spürte, wie ihre Verwirrung wuchs. Sie spürte, wie sie fiel - und in diesem Augenblick wurde sie von zwei lederbekleideten Armen aufgefangen.
Paulo sah, wie Vahalla seine Frau stützte. Er dachte, dass er das alles hätte vermeiden können. Dass er darauf hätte bestehen sollen, dass Chris im Hotel blieb - egal, was sie davon hielt. Sobald er die Anstecknadel gesehen hatte, wusste er, welcher Tradition die Walküren angehörten.
Diese hatten seinen Ring ebenfalls gesehen und wussten, dass er schon viele Prüfungen bestanden hatte und es nicht leicht war, ihm Angst einzujagen. Aber sie würden alles tun, um jeden, der sich ihrer Gruppe näherte, auf Herz und Nieren zu prüfen. Wie seine Frau beispielsweise.
Allerdings würden sie letztlich weder Chris noch sonst jemanden - wirklich niemanden - daran hindern, ihr Wissen zu erfahren. Sie hatten einen Schwur getan: Alles, was verborgen war, musste enthüllt werden. Chris wurde gerade auf die erste große Tugend getestet, die man braucht, um den spirituellen Weg zu gehen: Mut.
»Hilf mir!«, sagte die Walküre.
Paulo trat hinzu und half Vahalla, seine Frau zu stützen. Sie trugen sie zum Wagen und legten sie auf den Rücksitz.
»Keine Sorge! Sie kommt gleich wieder zu sich. Sie wird große Kopfschmerzen haben.«
Paulo war nicht besorgt. Er war stolz.
Vahalla ging zu ihrem Pferd und holte eine Trinkflasche. Paulo bemerkte, dass sie die Sonnenbrille aufgesetzt hatte - sie war sicher auch an ihre Grenze gelangt.
Sie goss Wasser über Chris' Stirn, über die Handgelenke und hinter die Ohren. Chris öffnete die Augen, blinzelte etwas und setzte sich auf.
»Einen Pakt brechen«, sagte sie, während sie der Walküre ins Gesicht sah.
»Du bist eine interessante Frau«, antwortete Vahalla und strich ihr übers Gesicht. »Aber setz deine Brille auf!«
Vahalla streichelte Chris' Haar. Und obwohl beide Sonnenbrillen trugen, wusste Paulo, dass sie einander weiter ansahen.
Die drei gingen auf einen Berg zu, in den eine geheimnisvolle Tür eingelassen war. Dort wandte sich Vahalla an die anderen Walküren.
»Für die Liebe. Für den Sieg. Und zu Gottes Ruhm.«
Die Worte derer, die die Engel kennen. Der Satz, den J. benutzt hatte.
Die Pferde, die bis dahin reglos dagestanden hatten, wurden unruhig. Wie tags zuvor bei der Tankstelle gaben die anderen Walküren ihren Pferden jetzt die Sporen und ritten dicht aneinander vorbei, eine Runde nach der anderen, weiter und immer weiter. Wenige Minuten später waren sie hinter dem Berg verschwunden. Nun wandte sich Vahalla an Paulo und Chris.
»Lasst uns hineingehen!«, sagte sie.
Da war keine Tür, sondern ein Gitter. Davor ein Schild:
gefahr
eintritt durch die bundesregierung verboten
zuwiderhandlungen werden strafrechtlich verfolgt.
Es handelte sich um eine verlassene Goldmine.
»Glaubt das bloß nicht!«, sagte die Walküre. »Die können das hier nicht alles überwachen.«
Valhalla machte eine Taschenlampe an, und sie bewegten sich vorsichtig voran, um nicht unerwartet mit dem Kopf gegen die Bohlen an der Decke zu stoßen. Paulo merkte, dass das Erdreich hier und da abgerutscht war. Vielleicht war es ja gefährlich - aber darüber wollte er jetzt nicht nachdenken.
Je tiefer sie in den Berg hineingingen, desto kühler wurde es, bis die Temperatur angenehm war. Er befürchtete, keine Luft zu bekommen, aber Vahalla bewegte sich, als würde sie das alles sehr gut kennen - offenbar war sie schon mehrmals hier gewesen und noch immer am Leben. Auch darüber wollte er jetzt nicht nachdenken.
Nach ungefähr zehn Minuten blieb die Walküre stehen. Sie setzten sich auf den Boden, und Vahalla legte die Taschenlampe in die Mitte zwischen sie drei.
»Engel«, sagte sie. »Die Engel sind für diejenigen sichtbar, die das Licht annehmen. Und den Pakt mit der Dunkelheit brechen.«
»Ich habe keinen Pakt mit der Dunkelheit«, entgegnete Paulo. »Ich hatte einen. Aber jetzt nicht mehr.«
»Ich meine nicht den Pakt mit Luzifer oder Satan oder mit...« - sie begann, die Namen verschiedener Dämonen zu nennen, und ihr Gesicht wirkte dabei eigenartig.
»Sprich diese Namen nicht aus!«, unterbrach Paulo sie. »Gott ist in den Worten und der Dämon auch.« Vahalla lachte.
»Mir scheint, du hast die Lektion gelernt. Jetzt brich den Pakt!«
»Ich habe keinen Pakt mit dem Bösen«, wiederholte er.
»Ich meine den Pakt mit der Niederlage.«
Paulo erinnerte sich an die Worte von J. - »der Mensch zerstört immer, was er am meisten liebt«. Aber J. hatte nichts von einem Pakt gesagt. Er kannte Paulo gut genug, um zu wissen, dass dieser seinen Pakt mit dem Bösen schon vor langer Zeit gebrochen hatte. Die Stille in der Mine war schlimmer als die der Wüste. Man hörte absolut gar nichts, nur Vahallas Stimme - die jetzt anders klang.
»Wir haben eine Abmachung mit uns selber: nicht siegen, wenn der Sieg möglich ist«, ließ sie nicht locker.
»Ich habe nie so etwas mit mir abgemacht«, sagte Paulo zum dritten Mal.
»Wir alle haben es getan. Irgendwann im Leben haben alle diesen Pakt geschlossen. Deshalb steht ein Engel mit einem Feuerschwert an der Pforte des Paradieses. Und er lässt nur diejenigen hinein, die diesen Pakt gebrochen haben.«
>Ja, sie hat recht<, dachte Chris. >Wir alle haben ihn geschlossen.<
»Findest du mich schön?«, fragte Vahalla, und ihre Stimme klang wieder ein wenig anders.
»Du bist eine schöne Frau«, antwortete Paulo.
»Eines Tages, damals war ich noch ein Teenager, ist meine beste Freundin plötzlich vor mir in Tränen ausgebrochen. Wir waren unzertrennlich und mochten uns sehr. Ich fragte sie, was los sei. Nach langem Drängen erzählte sie mir, dass ihr Freund in mich verliebt sei. Ohne mir dessen bewusst zu sein, habe ich an jenem Tag mit mir selbst einen Pakt geschlossen. Ich begann zuzunehmen, meinen Körper zu vernachlässigen, mich ganz allgemein gehenzulassen. Denn unbewusst hielt ich meine Schönheit für einen Fluch, der meiner besten Freundin Leid verursacht hatte.
Es dauerte nicht lange, da hatte ich jegliche Lebensfreude in mir erstickt und sah keinen Sinn mehr im Leben. Bis zu dem Augenblick, an dem ich das alles nicht mehr ertrug. Ich wollte sterben.«
Vahalla lachte.
»Wie du siehst, habe ich den Pakt gebrochen.«
»Stimmt«, sagte Paulo.
»Ja, stimmt«, sagte Chris. »Du bist schön.«
»Wir befinden uns im Bauch des Berges«, fuhr Vahalla fort. »Draußen scheint die Sonne, und hier ist alles dunkel. Aber die Temperatur ist angenehm, wir können schlafen, brauchen uns um nichts zu kümmern. Hier herrscht die Dunkelheit des Paktes.«
Ihre Hand tastete nach dem Reißverschluss ihrer Lederjacke.
»Brich den Pakt!«, sagte sie. »Zum Ruhme Gottes. Für die Liebe und für den Sieg.«
Dann zog sie langsam den Reißverschluss herunter. Sie trug nichts unter der Jacke. Im Licht der Taschenlampe blitzte zwischen ihren Brüsten ein goldenes Medaillon.
»Nimm es!«, sagte sie.
Paulo berührte das Medaillon. Der Erzengel Michael. »Nimm die Kette von meinem Hals!«
Er nahm ihr das Medaillon ab und hielt es in beiden Händen.
»Haltet beide das Medaillon!«
»Ich brauche meinen Engel nicht zu sehen!« Zum ersten Mal, seit sie in die Mine gegangen waren, sagte Chris etwas. »Ich brauche es nicht, es reicht mir, mit ihm zu sprechen!«
Paulo stand mit dem Medaillon in der Hand da.
»Ich habe mit meinem Engel zu sprechen begonnen«, fuhr Chris fort. »Ich weiß, dass ich es kann, und das reicht.«
Paulo konnte es nicht glauben. Doch Vahalla wusste, dass es stimmte. Sie hatte es in Chris' Augen gelesen, als sie draußen gewesen waren. Dennoch hatte sie Chris' Mut auf die Probe stellen müssen. Das erforderte die >Tradition<.
»Ist in Ordnung«, sagte die Walküre.
Damit schaltete sie die Taschenlampe aus. Und es herrschte vollkommene Dunkelheit.
»Häng dir das Medaillon um den Hals!«, forderte sie Paulo auf. »Und halte es in den gefalteten Händen!«
Paulo gehorchte. Er hatte Angst vor dieser vollkommenen Dunkelheit. Sie erinnerte ihn an Dinge, an die er sich nicht erinnern wollte.
Er spürte, wie sich Vahalla von hinten näherte. Ihre Hände berührten ihn am Kopf.
Die Dunkelheit war kompakt. Kein einziger Lichtstrahl drang bis hierher.
Vahalla begann, ein Gebet in einer fremdartigen Sprache zu sprechen. Anfangs versuchte Paulo noch herauszufinden, was sie sagte. Dann spürte er, während ihre Hände über seinen Kopf strichen, wie das Medaillon immer heißer wurde. Er konzentrierte sich ganz auf die Hitze in seinen Händen.
Die Dunkelheit veränderte sich. Verschiedene Szenen aus seinem Leben spielten sich vor ihm ab. Licht und Schatten, Licht und Schatten - und plötzlich herrschte wieder nur noch Dunkelheit.
»Ich möchte mich nicht daran erinnern«, bat er die Walküre.
»Erinnere dich! Was auch immer es ist, versuche, dich an jede Minute zu erinnern!«
Die Dunkelheit zeigte ihm das Grauen. Das Grauen, das vor vierzehn Jahren geschehen war.
Auf dem Früh Stückstisch lag ein Zettel: »Ich liebe dich. Bin gleich wieder da.« Darunter hatte sie das vollständige Datum notiert: 25. März 1914.
Merkwürdig. Einen Liebesgruß zu datieren.
Als er aufwachte, war ihm etwas schwindlig gewesen. Er hatte noch unter der Wirkung seines Traums gestanden, in dem ihm zu seiner Überraschung der Direktor der Plattenfirma eine Arbeitsstelle angeboten hatte. Er brauchte die Anstellung nicht: Der Direktor der Firma war sein Angestellter - seiner und der seines Partners. Die Platten, die sie produzierten, standen an der Spitze der Charts, verkauften sich tausendfach, und aus allen Ecken Brasiliens kamen Briefe. Die Leute wollten wissen, was die >Sociedade Alternativa< war.
>Man braucht doch nur auf die Songtexte zu achten<, hatte er damals gedacht. Es war nicht die Musik - es war das Mantra eines magischen Rituals, bei dem die Worte des »Tiers der Apokalypse« leise im Hintergrund verlesen wurden. Wer diesen Song sang, würde die Kräfte der Finsternis anrufen. Und alle sangen ihn.
Er und sein Partner hatten alles schon vorbereitet. Das mit den Autorenrechten verdiente Geld sollte in den Kauf eines Grundstücks in der Nähe von Rio de Janeiro investiert werden. Dort würden sie hinter dem Rücken des Militärregimes wiedererschaffen, was das »Große Tier« in Cefalú auf Sizilien schon einmal aufzubauen versucht hatte. Das »Große Tier« - als das hatte sich der Okkultist Aleister Crowley selber bezeichnet - war damals von den italienischen Behörden ausgewiesen worden. Es hatte sich in vielen Punkten geirrt - es hatte nicht genügend Schüler gefunden, wusste nicht, wie man Geld verdiente. Es hatte allen verkündet, seine Zahl sei die 666, es werde eine Welt schaffen, in der die Schwachen den Starken dienten und in der das einzige Gesetz sei zu tun, wozu man Lust hatte. Aber es hatte es nicht geschafft, seine Vorstellungen zu verbreiten - nur wenige Menschen hatten seine Worte ernst genommen.
Bei ihm selber und seinem Partner - Raul Seixas -, bei ihnen war das ganz anders gewesen! Raul sang, und das gesamte Land hörte zu. Sie waren junge Leute, und sie verdienten viel Geld. Brasilien lebte zwar unter einer Militärdiktatur, aber die Regierung war vor allem wegen der Guerrilleros in Sorge. Mit einem Rocksänger gaben sie sich nicht ab. Ganz im Gegenteil, die Behörden fanden, dass dessen Musik die jungen Leute vom Kommunismus fernhielt.
Er trank seinen Kaffee und ging ans Fenster. Er würde einen Spaziergang machen und sich dann mit seinem Partner treffen. Es war ihm gleichgültig, dass ihn niemand kannte und sein Freund berühmt war. Entscheidend war, dass er Geld verdiente, das ihm erlaubte, seine Vorstellungen zu verwirklichen. Die Leute aus der Musikszene, die Leute aus der Magierszene - ja, die wussten das! Beim großen Publikum unbekannt zu sein hatte sogar etwas für sich - mehr als einmal hatte er deswegen das Vergnügen gehabt, unbemerkt zuhören zu können, als jemand etwas Positives über seine Arbeit sagte.
Er trat vom Fenster zurück, um seine Turnschuhe anzuziehen. Als er sich herunterbeugte, spürte er einen leichten Schwindel.
Er hob den Kopf. Die Wohnung wirkte dunkler als sonst. Draußen schien die Sonne. Irgendetwas brannte - möglicherweise ein Haushaltsgerät, denn der Herd war abgestellt. Er suchte in allen Ecken. Nichts.
Die Luft war stickig. Er beschloss, sofort hinauszugehen - ohne erst die Turnschuhe zuzubinden. Er merkte, dass er sich unwohl fühlte.
Wahrscheinlich habe ich irgendetwas gegessen, was mir nicht bekommen ist<, sagte er sich. Aber wenn er etwas aß, was er nicht essen sollte, meldete sich sein Körper sofort, das kannte er schon. Ihm war nicht übel, er musste sich nicht übergeben. Nur dieser Schwindel wollte nicht aufhören.
Dunkelheit. Die Dunkelheit wurde immer größer, wie eine graue Wolke, die ihn einhüllte. Wieder spürte er den Schwindel. Ja, es musste etwas sein, das er gegessen hatte, oder vielleicht ein LSD-Flashback, dachte er. Aber er hatte seit fast fünf Jahren keins mehr genommen. Die Flashbacks waren in den ersten sechs Monaten verschwunden und waren nie wiedergekehrt.
Er hatte Angst, er musste unbedingt das Haus verlassen.
Eröffnete die Tür. Der Schwindel kam und ging, er fürchtete, auf der Straße draußen einen Schwächeanfall zu bekommen. Darum würde er besser zu Hause bleiben und abwarten. Da lag immer noch dieser Zettel auf dem Tisch - bald würde sie wieder da sein -, er könnte warten. Sie würden zusammen zur Apotheke oder zum Arzt gehen, obwohl er Ärzte hasste. Niemand hat mit 26 Jahren einen Herzinfarkt.
Niemand.
Er setzte sich aufs Sofa. Er musste sich ablenken, nicht an sie denken, sonst verging die Zeit noch langsamer. Er versuchte, die Zeitung zu lesen, aber der Schwindel kam und ging immer wieder, und jedes Mal war er starker. Etwas zog ihn in ein schwarzes Loch, das sich mitten im Zimmer aufzutun schien. Er begann, Geräusche zu hören - Gelächter, Stimmen, schepperndes Geschirr. Das war noch nie passiert - niemals! Wenn er Drogen genommen hatte, wusste er immer, dass er high war, dass es sich um eine Halluzination handelte und dass diese nach einer Weile vorbeigehen würde. Doch dies hier - das hier war entsetzlich real.
Doch nein, es konnte nicht real sein. Die Realität, das waren die Teppiche, der Vorhang, das Bücherregal, der Frühstückstisch, auf dem noch Brotreste lagen. Er tat alles, um sich ganz auf das zu konzentrieren, was ihn umgab, aber das Gefühl bestand weiter, dass es vor ihm ein schwarzes Loch gab. Er hörte weiterhin Stimmen, Gelächter.
Das konnte doch einfach nicht sein. Er hatte sechs Jahre lang Magie praktiziert. Alle Rituale gemacht. Er wusste, dass alles nur auf Suggestion, auf psychologischer Wirkung beruhte - dass alles nur ein Spiel mit der Vorstellungskraft war - nichts weiter.
Seine Panik nahm zu, der Schwindel wurde immer stärker - er zog ihn aus seinem Körper heraus in eine dunkle Welt, zu diesem Gelächter, diesen Stimmen, diesen Geräuschen - die real waren!
>Ich darf keine Angst haben. Angst bewirkt, dass alles zurückkommt.<
Er versuchte, sich unter Kontrolle zu halten, ging ins Bad und wusch das Gesicht. Er fühlte sich besser, dieses Gefühl schien aufgehört zu haben. Er band seine Turnschuhe zu und versuchte, alles zu vergessen. Er spielte mit dem Gedanken, seinem Partner zu erzählen, dass er in eine Trance gefallen sei und Kontakt mit den Dämonen gehabt habe.
Doch allein bei diesem Gedanken kam der Schwindel zurück - und zwar noch stärker.
>Ich bin gleich wieder da<, stand auf dem Zettel. Aber sie kam nicht!
>Auf der Astralebene habe ich nie konkrete Ergebnisse erzielt<. Er hatte nie etwas gesehen. Weder Engel noch Dämonen, noch die Geister von Toten. »Das Große Tier« hatte in seinem Tagebuch geschrieben, dass er Dinge materialisierte, aber das stimmte nicht, das »Große Tier« war nicht bis dorthin gekommen, er wusste das. »Das Große Tier« hatte versagt. Ihm hatten dessen Ideen gefallen, weil sie rebellisch, chic waren, weil nur wenige Menschen davon gehört hatten. Und die Leute hatten immer mehr Respekt vor jemandem, der Dinge sagte, die keiner verstand. Bei den anderen - Hare Krishna, Kinder Gottes, Satanskirche, Maharishi - machten alle mit. »Das Große Tier« - »Das Große Tier« war nur etwas für die Auserwählten. »Das Gesetz des Stärkeren«, lautete ein Text. »Das Große Tier« war auf dem Plattencover von Sergeant Pepper's Lonely Heart Club Band, der bekanntesten Platte der Beatles. Vielleicht wussten nicht einmal die Beatles, wen sie da mit aufs Cover genommen hatten.
Das Telefon klingelte. Es könnte seine Freundin sein. Aber wenn sie geschrieben hatte »Ich bin gleich wieder da«, wozu würde sie dann telefonieren?
Was aber, wenn etwas passiert warf.
Deshalb kam sie nicht. Der Schwindel kehrte jetzt in kürzeren Abständen zurück, und plötzlich war alles schwarz. Er wusste - irgendetwas sagte es ihm -, dass er sich nicht von diesem Gefühl beherrschen lassen durfte. Etwas Schreckliches könnte geschehen - möglicherweise würde er in diese Dunkelheit eintauchen und nie wieder herauskommen. Er musste unbedingt die Kontrolle über sich behalten - er musste seinen Geist beschäftigen, oder das da würde sich seiner bemächtigen.
Das Telefon. Er konzentrierte sich auf das Telefon. Reden, sich unterhalten, auf andere Gedanken kommen, etwas finden, das ihn von dieser Dunkelheit ablenkte. Das Telefon, das klingelte, war ein Wunder, ein Ausweg. Das wusste er. Er wusste, dass er sich auf gar keinen Fall dem anderen überlassen durfte.
Er musste ans Telefon gehen.
»Hallo?«
Es war eine Frauenstimme, aber nicht die seiner Freundin - es war Argeies. »Paulo?« Er schwieg.
»Paulo, hörst du mich? Du musst unbedingt sofort herkommen! Es geschieht hier etwas sehr Eigenartiges!«
»Was ist los?«
»Du weißt es, Paulo! Erklär es mir, um Gottes Willen!«
Er legte auf, noch bevor er hörte, was er nicht hören wollte. Es war keine Spätfolge der Drogen. Es war kein Symptom von Verrücktheit. Es war kein Herzanfall. Es war real.
Er geriet in Panik. Minutenlang dachte er an gar nichts, und die Dunkelheit bemächtigte sich seiner immer mehr. Sie rückte näher, brachte ihn dazu, seinen Fuß an den See des Todes zu setzen.
Er würde sterben - wegen all dessen, was er, ohne daran zu glauben, getan hatte. Wegen all der Menschen, die unwissentlich daran beteiligt worden waren. Wegen all des Bösen, das in der Form von Gutem verbreitet worden war. Er würde sterben, und die Dunkelheit würde weiter existieren. Denn sie offenbarte sich ihm jetzt. Sie zeigte ihm, dass die Magie eben doch funktionierte und dass er den Preis dafür bezahlen musste, dass er sie benutzt hatte. Vorher hatte er von diesem Preis nichts wissen wollen, weil er geglaubt hatte, Magie sei umsonst zu haben, dass alles nur Lüge oder Suggestion sei.